Interview: Astrid Tomczak-Plewka
Marcel Tanner, Sie geben nächstes Jahr das Präsidium der Akademien der Wissenschaften Schweiz ab. Was hat Ihre Amtszeit geprägt?
Ich schaue sehr gerne zurück. Wir haben die Evaluation durchgeführt, die dazu diente, zu schauen wie man diesen Verbund effizienter gestalten und damit profilieren kann. Wir haben die Empfehlungen diskutiert und umgesetzt. Ausserdem sind wir erfolgreich in der Organisationsentwicklung unterwegs und haben bereits die wichtigsten Statutenänderungen abgesegnet, vornehmlich das Klären der Prozesse sowie der Rollen und Verantwortungen der Organe im Verbund. Als Perle konnten wir Ende Juni diesen Jahres die Mehrjahresplanung 2025-28 einreichen, die wir gemeinsam im Verbund erarbeitet haben. Daran dürfen wir Freude haben. Es war nicht immer einfach, wir mussten viel investieren, aber kontinuierlich hat sich über diese Zeit auch das Klima der Zusammenarbeit verbessert. Falsche Abgrenzungen zwischen der Dachorganisation a+ und den anderen Mitgliedern wurden aufgehoben. Und ohne naiv zu sein, kann ich sagen: Vieles hat sich grundsätzlich zum Guten verändert. Das war das Ziel, dem ich gut und gerne gedient habe. Jetzt ist der Moment, den Stab weiterzureichen.
Sie sind offiziell im Februar 2020, also kurz vor dem ersten Lockdown angetreten – wie hat diese Pandemie die Akademien der Wissenschaften Schweiz beeinflusst?
Die Pandemie war wie ein PCR-Test, den man über die Gesellschaft gelegt hat. Alles was bereits vorhanden war, wurde nun offensichtlicher. Für die Akademien wurde dadurch ganz deutlich: Wir müssen im gleichen Boot sitzen. Diejenigen, die im gleichen Boot sitzen, müssen nicht die gleiche Meinung haben, aber sie sind gemeinsam unterwegs. Ohne die Pandemie als – in Anführungszeichen – «glückliche Fügung» hätte das Argument des Miteinanders beispielsweise gerade in der Mehrjahresplanung viel weniger Gewicht gehabt.
«Die Pandemie war wie ein PCR-Test, den man über die Gesellschaft gelegt hat. Alles was bereits vorhanden war, wurde nun offensichtlicher»
Wie erlebten Sie Ihre Tätigkeit als Mitglied der Covid-Taskforce?
Als Leiter der Public-Health-Gruppe war ich öfter mit Kritik konfrontiert – gerade von VertreterInnen, welche die Infektionskontrolle in den Vordergrund stellten und weniger den Public Health Kontext berücksichtigten. Am heftigsten wurde ich angegangen, als ich mich dafür ausgesprochen habe, die Schulen offen zu halten. Aber ich stehe dazu: Wirtschaftliche Einbussen in einem Restaurant kann man kompensieren, Bildungsrückstände hingegen, die insbesondere auch die schwächeren Mitglieder der Bevölkerung betreffen, nur sehr schwer. Kinder und Jugendliche waren und sind keine Risikogruppe und auch nicht Haupttreiber der Übertragung.
Wie sind Sie mit der – teils massiven – öffentlichen Kritik an Ihrem Kurs umgegangen?
Das ist für mich ok. Ich stehe zu meiner Meinung auf den Grundlagen der wissenschaftlichen Erkenntnisse. Ich befürworte keine strikte Infektionskontrolle, und zwar aus einem einfachen Grund: Eine Zoonose, die auf den Menschen überspringt und sich von Mensch zu Mensch leicht überträgt, kann man nicht eliminieren – man muss damit leben. Also muss man die Public Health Perspektive einnehmen. Letztlich war die Kritik auch punktuell. Heute sagt mir die Mehrzahl der Leute, dass sie froh waren, dass ich diese Position vertreten habe. Public Health hat das Wohl der Gesellschaft im Auge und eröffnet damit einen Ausblick. Das haben viele Leute geschätzt. Es ist nicht die Wirtschaft, die das soziale Gewebe trägt, sondern umgekehrt. Und eine Public Health ohne ökonomische Dimensionen ist eine schlechte Public Health. Deshalb ist es falsch und gar dumm, falsche Dichotomien zu schaffen wie Gesundheit gegen Wirtschaft.
Inwiefern hat die Pandemie die Wahrnehmung der Wissenschaft in der Öffentlichkeit verändert?
Sie hat gezeigt, dass wir noch viel zu tun haben, damit die Wissenschaft Teil der Gesellschaft wird und nicht ein Expertentum zelebriert. Die Wissenschaft muss zu jedem Zeitpunkt zeigen, was sie weiss und was sie nicht weiss, daraus entstehen Handlungsoptionen. Aber: Die Wissenschaft soll keine policy prescriptions machen, sondern policy relevante statements. Das habe ich schon vor vielen Jahren gesagt, es wurde aber wenig gehört; das hat sich durch die Pandemie etwas verändert. Diese Botschaft rüberzubringen ist mir ein Anliegen, und deshalb habe ich mich auch gerne exponiert – etwa im Covid-Forum der Akademien oder gar in Veranstaltungen der «Coronareflektierer». Das ist für mich ein Einsatz für die Zukunft der guten Wissenschaftskultur. Die Akademien sind die einzige klar vom Bund mandatierte Institution, die den Auftrag hat, den Dialog zwischen Wissenschaft, Gesellschaft und Politik zu fördern. In diesem Sinn handeln wir ja auch für alle BFI-Partner, und das wird von ihnen auch anerkannt, wofür ich sehr dankbar bin.
«Die Wissenschaft muss zu jedem Zeitpunkt zeigen, was sie weiss und was sie nicht weiss, daraus entstehen Handlungsoptionen»
Ist es der Wissenschaft denn gelungen, Herrn und Frau Schweizer zu vermitteln, wie Wissenschaft funktioniert?
Die Pandemie hat wohl dabei geholfen, aber wir sind noch weit davon entfernt. Wichtig ist, dass durch diese Pandemie ein Momentum geschaffen wurde, das wir halten müssen. Es wäre falsch zu sagen: Ok, das haben wir erreicht, jetzt ist alles toll. Der kritische Punkt ist: Wir haben zu viel Propaganda und Informationen verbreitet und wenig Kommunikation betrieben. Auch in Bezug auf andere Krisen und grosse Fragen liegt da noch viel vor uns.
Nebst der Pandemie sind wir heute mit neuen Herausforderungen konfrontiert – Ukraine, Energiekrise. Welchen Beitrag leistet die Wissenschaft zur Bewältigung?
Als kritische Beobachterin werden Sie feststellen: Die Energiediskussion läuft nicht gut. Wir ziehen zu wenig Lehren aus der Pandemie. Als wir im Mai zum Thema Klimawandel und Biodiversität bei den Parlamentariern zu Gast waren, hat es Bundesrätin Sommaruga klar gesagt: Die Wissenschaft sollte immer die Basis von politischen Entscheiden sein. Aber die Exponenten der Wissenschaft sind immer noch zu oft dem alten Stil verhaftet, wo ein paar ExpertInnen Empfehlungen abgeben, aber nicht wirklich Teil eines iterativen Dialogs mit der Politik und Gesellschaft sind. Damit werden Empfehlungen nicht verstanden, und sie wurzeln oft nicht in der Realität. Dabei haben wir im Leben gelernt – und mit dieser Aussage sind nicht alle einverstanden – dass es gar keine ExpertInnen gibt. Wir alle haben Wissen und Erfahrungen, und zusammen bekommen wir es hin, nach dem Prinzip «mutual learning for change». Dieser Ansatz des Dialogs und des Handelns sickert jetzt langsam durch.
Sie haben schon mehrfach die Schaffung eines ständigen wissenschaftlichen Beratungsgremiums angeregt. Wie ist diesbezüglich der Stand?
Ich habe von den BFI-Partnern den Auftrag erhalten, diese Gespräche zu koordinieren, was mich sehr freut. Auslöser zum Einbezug der BFI-Partner durch den Bundesrat war vor über einem Jahr ein Postulat im Ständerat. Im ersten Quartal 2023 wird wohl der Bundesrat dem Parlament seinen Bericht vorlegen, wie der Dialog von Wissenschaft mit Politik und Gesellschaft für Krisen und grosse Fragen unserer Gesellschaft verbessert werden kann. Die Stossrichtung ist: Die über 100 ausserparlamentarischen Kommissionen werden durchleuchtet und auf ihre Effizienz geprüft. Ausserdem wird genau hingeschaut, welche wissenschaftliche Expertise in den diversen Bundesämtern vorhanden ist – und ob sie dort am richtigen Ort angesiedelt ist. Und drittens richtet sich das Augenmerk auf die Kompetenzzentren und Netzwerke. Weil jede Krise anders ist, könnten entsprechende Kompetenzzentren mit ihren Netzwerken den jeweiligen Bundesämtern und Instituten – also etwa dem BAG oder dem UVEK – mit dem entsprechenden Fachwissen zur Verfügung stehen. Ein Beispiel wäre das Schweizerische Tropen- und Public Health Institut als Kompetenzzentrum für Infektionskrankheiten. Die Corona-Taskforce ist ja nun wieder eingesetzt – und zwar deshalb, weil dieses System der Kompetenzzentren und Netzwerken noch nicht in Kraft ist. Die Akademien mit ihren Foren und Plattformen auf Gebieten wie Energie, Klima und Biodiversität wären Teil einer solchen Netzwerklösung.
Das klingt gut. Aber in der aktuellen Krise hinken wir doch wieder einem Problem hinterher, statt handeln zu können…
Das stimmt. Die Konsultationsprozesse sind teilweise schwierig und langwierig, weil alle das Gefühl haben, sie müssen was dazu sagen. Für ein kleines Land mit knapp 9 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern haben wir einen extrem ausgeprägten Föderalismus mit 26 Gesundheitssystemen. Es wäre gerade im Gesundheitswesen viel wichtiger, dass wir in Versorgungsregionen denken – also beispielsweise in der Nordwestschweiz bilden der Jura, die beiden Basel, Solothurn und Aargau eine Versorgungsregion. Dann käme nicht so ein Unsinn raus, wie bei mir zuhause: Da verläuft eine Strasse zwischen Baselland und Baselstadt. Während Corona mussten die auf der einen Seite eine Maske tragen und die anderen nicht. Das Beispiel kann man weiterspinnen in Bezug aufs Energiesparen: Da müssen die einen dann bei 17 Grad um 23 Uhr die Lichter löschen, die anderen erst um Mitternacht und haben 18 Grad Wohntemperatur. Das ist doch für die Bevölkerung total unverständlich.
In Ihrer Zeit als Präsident der Akademien der Wissenschaften Schweiz wurde die Junge Akademie Schweiz gegründet. Was geben Sie dem akademischen Nachwuchs mit?
Die Freude am frühen Mitgestalten, also Engagement und sich Zeit nehmen! Ich höre oft, dass Junge Leute kaum Zeit haben. Es stimmt, dass es heute viel mehr Vorgaben gibt als zu meiner Zeit als Doktorand. Umso wichtiger ist es, die wenigen Freiräume zu nutzen. Da ist auch etwas Bescheidenheit gefragt. Vielleicht kann man nicht parallel zum Studium die Musikerkarriere vorantreiben und ein Pferd halten, mit dem man dann wenn’s hoch kommt einmal wöchentlich ausreitet – und gleichzeitig noch möglichst viel chillen. Damit überfordern wir uns alle, und es kann zur Spaltung führen.
Wie können denn die Jungen den Akademienverbund bereichern?
Jahrelang haben wir eine Suppe mit relativ wenig Salz und Gewürzen gekocht. Die Jungen sind dieses Salz – oder in einem anderen Bild: Sie sind ein wichtiger Teil des Profils auf den Reifen der Akademien. Spontan kommt mir da ein Wort in den Sinn – retired, aber ganz anders verstanden: Re-Tyred, also die Akademien werden von den Jungen mit neuen Reifen ausgestattet (lacht).
«Die Jungen [...] sind ein wichtiger Teil des Profils auf den Reifen der Akademien. Spontan kommt mir da ein Wort in den Sinn – retired, aber ganz anders verstanden: Re-Tyred, also die Akademien werden von den Jungen mit neuen Reifen ausgestattet»
Manche vergleichen eine akademische Laufbahn mit dem Sport: Es schaffen es nur ganz wenige an die Spitze. Das kann ja junge Leute auch einschüchtern.
Das stellt sich die Frage, was die Spitze ist. Ich illustriere das gerne an einem Beispiel. Ich hatte nie den Anspruch, alle Engelhörner zu besteigen. Ich bin lieber im Tafeljura wandern gegangen. Eine schöne Wanderung auf dem Tafeljura kann genau so erfüllend sein, wie sich die letzten Meter auf ein Engelhorn hochzuquälen. Wenn ich den Vergleich zum Sport heranziehen müsste, würde ich den Hindernislauf nehmen: Und zwar ein Hindernislauf, wo am Ende nicht die Ziellinie und eine Medaille warten, sondern die Bevölkerung mit offenen Armen, auch wenn jemand manche Hindernisse nicht überwunden, sondern runtergerissen hat.
Sie sagen zwar, dass sie nicht den Anspruch hatten, die Spitze zu erreichen. Aber Sie gelten doch als erfolgreicher Wissenschaftler. Wo liegt das Geheimnis?
Ich war ein verwöhntes Bubi. Ich konnte immer das tun, was ich gerne tue. Ich bin auch meiner Frau und Familie extrem dankbar, dass wir ein solches Leben führen und auch immer die Kinder mitnehmen konnten. Wir haben uns das gar nicht gross überlegt oder geplant, aber sind konsequent und mit einer gewissen Bescheidenheit unsere Arbeiten im Dienste der Organisationen und betroffenen Bevölkerungen angegangen. Das hängt natürlich auch damit zusammen, wo man herkommt. Ich bin in einfachen Verhältnissen aufgewachsen. Mein Primarlehrer hat mir gesagt ich soll in die Sekundarschule und nicht in die Realschule (Anm. der Redaktion: In Basel war damals die Sekundarschule die unterste Stufe) – mein Vater sei ja auch «nur» Handwerker. Ich bin meinen Eltern sehr dankbar, dass sie diesen Rat nicht befolgt haben. Nach meinem Doktorat sind wir nur mit vier Koffern nach Tansania gereist und vier Jahre dort geblieben und haben bestens gelebt. Andere haben später dann mit mir verhandelt, ob sie einen Container nach Tansania schicken können.
In Tansania konnte ich auch nicht gleich forschen, sondern musste zuerst Strukturen aufbauen und eine Choleraepidemie anpacken. Da war ich weit weg davon, irgendwelche Paper zu produzieren. Wissenschaft bedeutet, neugierig zu sein. Meine drei Freuden, die mich durch das Leben getragen haben waren die Freude zu entdecken, die Freude zu teilen und schliesslich dabei zu sein, wenn Wissenschaft zu Gunsten der Bevölkerung umgesetzt wird. Nie war es das Streben nach Exzellenz oder traditioneller Karriere. Ich war nie glücklich, wenn ich nur einen Expertenbericht mit Empfehlungen erstellen musste.
Wir stehen kurz vor Weihnachten: Was wünschen Sie sich unter dem Weihnachtsbaum und welches Geschenk hinterlassen Sie für Ihre Nachfolge?
Meiner potenziellen Nachfolgerin würde ich sagen: Schau, was unter dem Baum liegt und was wir erreicht haben. Das ist ein schönes Geschenk, kein ausgereiftes Produkt, aber ein Bausatz, der alle Teile enthält. Und daran mögest Du mit dem ganzen Team weiterbauen. Durch die Umsetzung der Organisationsentwicklung und die gemeinsame Mehrjahresplanung haben die Akademien eine Profilierung und eine neue Akzeptanz erhalten. Für mich wünsche ich, dass die Akademien dieses Momentum halten können, damit ich zufrieden die Übergabe erleben kann.
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