Autorin: Esther Lombardini
Das erste, was mir einfällt, wenn ich an Wassertropfen und Wasserfälle denke, ist meine Feldarbeit in Patagonien. Bei meiner Arbeit im chilenischen Nationalpark Torres del Paine habe ich zum ersten und einzigen Mal in meinem Leben gesehen, wie Wasserfälle aufwärts fliessen. Das ist möglich dank des Windes. Bis heute ist diese Erinnerung meine häufigste Assoziation, wenn ich an Wassertropfen denke. Wenn ein Wasserfall in die falsche Richtung fliesst, ist das spektakulär. Überhaupt gehört die Torres del Paine zu meinen Lieblingsorten auf dieser Welt, weil ich da die schönste Geologie gesehen habe. Die Schweizer Alpen sind auch faszinierend, aber halt gewohnter. Mit Chile verbinde ich einzigartige Erinnerungen, denn Feldarbeit ist ein wesentlicher Bestandteil meines Lebens.
Letztes Jahr haben wir die Geosciences Roadmap für das SBFI abgeschlossen. Das war eine besondere Erfahrung für mich, denn der Bericht entstand in einem Bottom-up-Prozess. Ich musste als Erstes meine KollegInnen davon überzeugen, dass wir mehr Erfolg haben, wenn wir uns zusammentun und Synergien bilden. Wenn sich Organisationen und verschiedene fachliche Orientierungen zusammenschliessen, geht daraus eine faszinierendere Wissenschaft hervor. Kollaborationen sind für die Spitzenforschung unumgänglich. Gleichzeitig geht damit eine grosse Freiheit beim Forschen verloren. Daran müssen wir uns noch gewöhnen.
Einer der grössten Gegensätze besteht zwischen der traditionellen Geologie und den «neuen», umweltbezogenen Geowissenschaften. Letztere haben sich in den letzten 30–40 Jahren stark entwickelt. Wenn man diese beiden Strömungen zusammenbringt, entsteht Uneinigkeit über die Verteilung von Ressourcen und Prioritätensetzung. Die neuen Geowissenschaften setzen viel auf Monitoring, da Veränderungen in Echtzeit gemessen werden können. Zum Beispiel messen wir an der Jungfraujoch-Station die Luftchemie, den Niederschlag, die Druckveränderung und so weiter. Die Daten fliessen dann in Klimamodelle ein, die beispielsweise durch das Oeschger Zentrum der Universität Bern oder das Paul Scherrer Institut erstellt werden. Es ist eine andere Ideenwelt, wenn wir messen, was jetzt gerade passiert. Dem gegenüber steht, was ich CSI-Geologie (CSI für Crime Scene Investigation) nennen würde. Da geht es um Geschehnisse in der Vergangenheit, bei denen wir nicht dabei waren. Wir sprechen hier von Zeitspannen zwischen einigen tausend und Milliarden Jahren. Das heisst bei uns «Deep Time». Es ist schon fast eine forensische Wissenschaft, weil wir versuchen zu verstehen, was vor langer Zeit passiert ist. Da werden chemische und physikalische Prozesse angeschaut. Dies bedingt nicht nur ein anderes Vorgehen, sondern umfasst auch eine andere Community. Und diese Communitys werden kaum überbrückt.
Um zur Vision der Roadmap zu gelangen und sich auf eine Integration der Geowissenschaften zu einigen, mussten Werner Eugen und ich – mein Mitstreiter in diesem Abenteuer – die Communities erst einmal von diesem Unternehmen überzeugen. Es war das erste Mal, dass innerhalb der Geowissenschaften so etwas aufgegleist wurde. Aber rückblickend hat es sich gelohnt. Wir haben einen grossartigen Bericht publiziert, der die wesentlichen Bestandteile der Geowissenschaften präsentiert. Ich kann nun nur hoffen, dass die politischen Organe diesen auch entsprechend ernst nehmen. Wir können stolz auf das Ergebnis sein. Ohne den Enthusiasmus der WissenschaftlerInnen und das Engagement der SCNAT-MitarbeiterInnen wäre dies nie möglich gewesen.
Dieser Artikel wurde im Jahresbericht 2021 der Akademien der Wissenschaften Schweiz veröffentlicht.
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