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«Schulmässig ist die Schweiz ein Prolo-Land geblieben»

Sandro Cattacin erzählt seinen Werdegang vom Immigrantenkind zum Professor, in welcher Sprache es ihm am wohlsten ist und was es heisst, als Forscher öffentlich Position zu beziehen.

 

Autor: Heinz Nauer

© Bildquelle: Annette Boutellier

Ich bin in Zürich im Kreis 4 aufgewachsen, als Kind italienischer Eltern, die aus dem Veneto in die Schweiz migriert sind. Ich dachte lange, der venezianische Dialekt, den wir zuhause sprachen, sei Italienisch. Schweizerdeutsch lernte ich als Fünfjähriger im Kindergarten. Mit der Kenntnis von zwei Dialekten begann meine Schulzeit. Dieses Sprachhandicap habe ich durch meine Schulzeit mitgetragen, ich musste es mit Rechnen kompensieren. Das ist eines der grössten Übel des schweizerischen Schulsystems, dass Kinder ausgesondert werden, nur weil sie die Sprache nicht gut beherrschen.

 

Ich war ein guter Schüler. Am Gymnasium am Zürichberg haben es mir gewisse Lehrer abgesprochen, dass ich dorthin gehöre. Als ich etwa 17 Jahre alt war, sagte der Deutschlehrer zu mir: «Cattacin, Sie sind ein Kommunist, und Sie gehören nicht in diese Schule.» Und der Mathematiklehrer: «Sie gehören eigentlich auf den Bau.» Das war in den späten 70er-Jahren.

 

Ich habe dann in Zürich studiert. Das Studium habe ich mit Bestnoten absolviert, bekam aber keine Chance, Assistent zu werden. Für meinen PhD wurde ich am European University Institute in Fiesole im italienischen Kontingent aufgenommen. Der Abschied aus der Schweiz war damals definitiv für mich. Ich dachte, in dieses Land werde ich nie zurückkehren. Es kam dann anders. Anfang der 90er-Jahre kam ich für ein Forschungsprojekt über die Rolle privater Wohlfahrtsorganisationen in der schweizerischen Sozial- und Gesundheitspolitik nach Genf.

 

In welcher Sprache fühle ich mich wohl? Wenn ich schreibe auf Italienisch. Die netten Kommentare sagen, meine Texte lesen sich wie Calvino, weil ich kurze Sätze mache, die weniger netten, das sei kein wissenschaftliches Italienisch. Deutsch geht immer noch relativ gut, wurde für mich aber eine kalte Sprache. Mit Französisch habe ich immer noch Mühe, die Sprache ist etwas zu barock für mich. Am Englisch hingegen habe ich Freude, diese Sprache erlaubt mir, mit einfachen, klaren Sätzen zu arbeiten. Das Argument, dass Mehrsprachigkeit sinnvoll ist, ist so klar wie banal. Genauso, dass es sinnvoll ist, auf Englisch zu publizieren. Wenn wir aber alle im Englischen vor uns hin holpern, dann gibt es Qualitätseinbussen, das ist ebenso klar.

 

Ich spüre Verantwortung, in meiner privilegierten Position als Professor in der Gesellschaft etwas zu verändern. Als Wissenschaftler eine Position zu haben heisst, an Verbesserungen orientiert zu sein, was für mich bedeutet: Mehr Rechte für Benachteiligte, mehr demokratische Partizipation. Die Position muss wissenschaftlich begründet sein, nicht links und nicht rechts, aber kritisch. Mit dem Think Tank «Penser la Suisse» möchten wir eine Plattform von und für AkademikerInnen schaffen, die demokratische Werte teilen, sich öffentlich positionieren möchten und sich nicht in den Hochschulen verschanzen.

 

Seit 2004 bin ich ordentlicher Professor für Soziologie in Genf. Als ich damals vom Rektor begrüsst wurde, stellte er mich als Forscher aus Italien vor, und ich musste sagen, «Nein, ich bin in Zürich aufgewachsen». Wie wenn das gar nicht denkbar wäre, dass MigrantInnenkinder in der Schweiz ProfessorInnen werden. Schulmässig ist die Schweiz ohnehin ein Prolo-Land geblieben. Die SchülerInnen werden immer noch so ausgebildet, dass sie gute Industriearbeitende werden. Pünktlich, genau, zuverlässig. Das ist weit weg von einer Schule, die sich an sozialem Fortschritt und Innovation orientiert. Das erklärt auch, weshalb in der Schweiz ein grosser Teil der Elite importiert wird.

Dieser Artikel wurde im Jahresbericht 2021 der Akademien der Wissenschaften Schweiz veröffentlicht.

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