Interview: Astrid Tomczak-Plewka
Yves Flückiger, Sie haben im Januar Ihr Amt als Präsident der Akademien der Wissenschaften Schweiz angetreten. Welche brennende Frage haben Sie an Ihren Vorgänger Marcel Tanner?
Yves Flückiger: Eine Frage ist sicherlich die Positionierung der Akademien in Bezug auf Digitalisierung. Die ORD-Strategie und das Thema Datenaustausch beispielsweise sind sehr wichtig für die ganze wissenschaftliche Landschaft der Schweiz. Das Jahr 2024 ist entscheidend, um hier eine Basis zu legen.
Marcel Tanner: Das kann ich nur bestätigen. Die Akademien dürfen diesbezüglich nicht den Anschluss verpassen. Open Science ist Teil unserer Wissenschaftskultur, die wir als Akademien verteidigen. Wir wollen nicht nur die Forschung fördern, sondern vor allem auch die Vermittlung und Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse; dafür müssen Daten der Gesellschaft nutzbar und Forschungsergebnisse allen zugänglich gemacht werden.
YF: Es gibt in der aktuellen geostrategischen Situation eine ganze Reihe Herausforderungen, die mit Digitalisierung verknüpft sind – etwa die Frage, ob wir wirklich einen total freien Datenaustausch wollen.
MT: Die Datensicherheit wird in der Schweiz teilweise zu weit getrieben und ist dabei nicht immer den Realitäten angepasst. Ein typisches Beispiel dafür war die Covid-App. Sie war technisch sehr gut, aber wenn es der Datenschutz verbietet, dass die App zwingend heruntergeladen muss und dass Kontaktmeldungen umgehend gemeldet werden müssen, führt das zu Verzögerungen und Unvollständigkeiten, was aus epidemiologischer wie aus Public Health-Sicht schlecht ist. Da müssen wir uns die Frage stellen, welcher Datenschutz aus individueller, aber auch aus gesellschaftlicher Sicht ethisch vertretbar ist.
YF: Letztlich geht es auch darum, auf welche Akzeptanz eine technologische Lösung in der Bevölkerung stösst. Und da spielt das Vertrauen in die Wissenschaft eine grosse Rolle.
Wenn Sie sich zurückerinnern, Marcel Tanner, mit welchem Anspruch sind Sie vor vier Jahren angetreten?
MT: Ich bin mit dem Anspruch angetreten, die Evaluation und die strategische wie strukturelle Organisationsentwicklung der Akademien umzusetzen. Dabei habe ich klar zuerst auf die Mehrjahresplanung gesetzt: Ich sagte mir, dass wir dafür zusammenarbeiten müssen und sich daraus die notwendigen strukturellen Änderungen harmonisch ergeben – und ich dadurch die Akademien meinem Nachfolger in einem guten Zustand hinterlassen kann. Mit den neuen Statuten und dem angepassten Organisationsreglement ist das gegeben. Und natürlich habe ich auch den Anspruch, dass wir gemeinsam eine solide wie auch wirkungsvolle Mehrjahresplanung 2025 bis 2028 haben, die den Herausforderungen der Gesellschaft und der Politik begegnet. Die Stabsübergabe kommt zu einem idealen Zeitpunkt – am Übergang der alten zur neuen Mehrjahresplanung.
Wo sehen Sie denn die künftigen Schwerpunkte, Yves Flückiger?
YF: Zuerst einmal ist es natürlich angenehm, nach all dieser Arbeit, die Marcel Tanner mit dem Vorstand und der Geschäftsleitung geleistet hat, dieses Amt in einer stabilen Situation übernehmen zu dürfen. Als Priorität sehe ich die Wiederaufnahme der Schweiz in Horizon Europe, dann natürlich die Finanzierung des gesamten BFI-Bereichs für die Periode 2025 bis 2028. Ausserdem ist mir die Stärkung der Attraktivität des Wissenschaftsstandorts Schweiz wichtig. Die Schweiz ist diesbezüglich sehr gut aufgestellt, aber wir dürfen uns nicht auf den Lorbeeren ausruhen. Wir müssen stets bemüht sein, die Infrastruktur und Forschungsplattformen voranzubringen, damit die Schweiz für europäische und internationale Forscherinnen und Forscher attraktiv bleibt. Es geht dabei nicht darum, einfach die wissenschaftliche Gemeinschaft oder die Akademien der Wissenschaften im Spezifischen zu stärken, sondern um die Gesellschaft als Ganzes. Marcel Tanner hat es immer wieder betont, und ich unterstreiche es: Unsere Rolle ist, die Forschung dahingehend zu unterstützen, dass sie gesellschaftliche Fragen adressiert und im Dialog mit Politik und Gesellschaft Antworten auf diese Fragen anbietet. Es geht um die Schweiz von morgen, um Fragen von Klima, Energie und Nachhaltigkeit, die multidisziplinär angegangen werden müssen. Und genau darin liegt die Stärke der Akademien.
Dem ganzen BFI-Bereich drohen empfindliche Kürzungen. Welche Folgen befürchten Sie, wenn auch die Akademien mit einer geringeren Finanzierung arbeiten müssen?
MT: Wir sind als einzige BFI-Institution mit der Aufgabe mandatiert, die Wissenschaft zu verbinden und Früherkennung zu betreiben. Wir etablieren bei Hauptthemen wie Energie oder Biodiversität Plattformen, über die wissenschaftliche Evidenz in Politik und Gesellschaft getragen wird. Das ist unser Grundauftrag, und der darf nicht zugunsten von prestigeträchtigen Einzelprojekten – bei denen wir ebenfalls vom Bund mandatiert sind – angetastet werden.
Trotzdem: Manche würden wohl sagen: Wozu brauchts die Akademien – wir haben doch tolle Universitäten, eine ETH Zürich, eine EPFL. Was antworten Sie, Yves Flückiger?
YF: Ich denke, wir müssen unsere Wirkung anhand von Beispielen zeigen. Die Mehrheit der Bevölkerung kann nicht viel damit anfangen, wenn wir sagen, wir müssen den Dialog zwischen der Wissenschaft und der Gesellschaft stärken, um die Schweiz zukunftsfähig zu machen. Nehmen wir die Quantenphysik, bei der die Akademien mit der Swiss Quantum Initiative betraut worden sind: Sie spielt in drei Bereiche hinein. Der Quantencomputer kann mit seinen immensen Rechenleistungen beispielsweise dazu beitragen, Unfälle zu vermeiden, Lösungen zur Kohlenstoffreduzierung, zur Abschwächung der antimikrobiellen Resistenzen oder zur Produktion von nahrhafteren Lebensmitteln mit weniger Landressourcen zu finden. Die Quantenkommunikation ist für die Cybersecurity wichtig. Damit können grosse Firmen schwer angreifbare Systeme etablieren, ausserdem trägt sie zur Sicherheit der Datenkommunikation zwischen Unternehmen und Individuen bei, und schliesslich blicken wir auf die Quantenmaterialien, die viel leichter, widerstandsfähiger und nachhaltiger sind. Wir haben hier also eine Technologie, die Antworten auf brennende Herausforderungen liefert. Um die Fachleute dafür auszubilden und zu vernetzen, brauchen wir ein System, das die Forschung und Ausbildung in diesem Bereich fördert.
MT: Ich möchte noch etwas ergänzen: Unser Grundauftrag besteht nicht einfach darin, in neue Technologien vorzustossen, um eine kurzfristige Kosten-Gewinn-Rechnung oder das Aufzeigen von Risiken, sondern es geht um den gesellschaftlichen Nutzen. Ein Beispiel: Im Grimselgebiet hat die Schweiz unter anderem schon nach dem Zweiten Weltkrieg Milliarden investiert, um die Wasserkraft voranzutreiben. Im Zufluss vom Oberaarstausee liegt heute ein Gebiet, das aus der Sicht der Biodiversität wertvoll ist. Wenn nun die Staumauer um acht Meter erhöht wird, um die Kapazität zu steigern, leidet die Biodiversität punktuell. Bei der Risiko-Benefit-Abwägung stellt sich also die Frage, ob wir damit leben können, an diesem Standort Biodiversität einzubüssen, wenn wir dadurch in der Energieversorgung gewinnen. Wenn wir politisch kompensierende Ausgleichsflächen durchsetzen, hätten wir einen positiveren Effekt auf die gesamte Biodiversität in unserem Land und könnten die Mauern erhöhen. Aber es gibt Widerstand aus der Landwirtschaft bezüglich der Ausgleichsflächen, denen wir begegnen müssen. Wir sind also mit sehr komplexen Systemen konfrontiert. Um diese Komplexität zu verstehen, braucht es einen multidisziplinären Ansatz der Güterabwägung. Da können die Akademien sicher einen Mehrwert leisten.
YF: Da sind wir wieder beim Thema Vertrauensbildung. Die ist extrem wichtig.
Angesichts der Weltlage ist es besonders schwierig, Vertrauen zu schaffen – Stichworte: Klimakrise, Ukraine-Krieg, Gaza-Krieg. Wie können die Akademien als vertrauenswürdige Akteurin wahrgenommen werden?
YF: Die Antwort ist sicher nicht für alle Institutionen gleich – und ich antworte hier mit meiner Erfahrung aus Genf. Wir müssen offen für alle Fragen sein, auch für die allerschwierigsten unter Berücksichtigung der akademischen Freiheit, der Meinungsfreiheit und roter Linien, etwa des Antisemitismus, der Islamophobie und so weiter. Wir müssen also diese Fragen in gegenseitigem Respekt und in Offenheit angehen. Das ist gerade angesichts der Krisen wichtiger denn je. Ich war schockiert, als mir ein Kollege in Genf sagte, er könne sein Seminar zur Wassergovernance in Gaza, die ein wichtiges Thema bei der Friedensbildung ist, angesichts der aktuellen Situation nicht mehr halten. Ich habe ihm entgegengehalten: im Gegenteil, jetzt erst recht. Wenn wir uns selbst zensurieren, wer wird dann diese Fragen adressieren?
MT: Die Akademien haben genau diese Aufgabe, die verschiedenen Positionen aufzuzeigen, aber nicht mit dem Hintergrund, die eine oder andere Position voranzutreiben. Wir dürfen keinen politischen Aktivismus betreiben. Wir können Fakten aufzeigen, abwägen und einordnen.
Zum Schluss: Was wünschen Sie Ihrem Vorgänger respektive Nachfolger?
MT: Ich freue mich sehr, dass Yves Flückiger die Komplexität der Fragestellungen sieht und beherzt angeht. Ich wünsche ihm, dass er die Akademien gemeinsam mit dem Team noch weiterbringt, weil die Grundlagen strukturell und funktionell jetzt vorhanden sind.
YF: Ich möchte mich bei Marcel Tanner bedanken, dass er so eine starke Organisation hinterlässt. Ich hoffe, respektive weiss, dass Marcel Tanner weiterhin die Rolle eines Weisen einnehmen wird, auf den die Schweiz immer zählen kann.
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