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«Wir müssen Menschen stets aus dem Verständnis heraus abholen»


Was waren die Highlights des Jahres 2021 für die Akademien und was steht ihnen noch bevor? Marcel Tanner, Präsident der Akademien der Wissenschaften Schweiz, wirft einen Blick zurück und erzählt, wo die Akademien aktuell stehen. Zentral sind dabei die Umsetzung der Evaluation sowie die Kernaufgabe, den Übertragungsriemen zwischen Wissenschaft, Politik und Gesellschaft weiterzuentwickeln. Weiter wirft er einen Blick auf die Covid-Impfung und setzt sie in Bezug zur Malaria-Impfung, an der er massgeblich beteiligt war.

 

Interview: Florim Ceka

© picture source: Annette Boutellier

16. Dezember 2021

 

Marcel Tanner, wir sind am Ende des Jahres angelangt. In Bezug auf die Akademien der Wissenschaften Schweiz: Was waren Ihre Highlights im Jahr 2021?

Die Pandemie hat das ganze Jahr dominiert und wird uns sicher auch weiterhin beschäftigen. Ende Februar hatte ich in der operativen Swiss National COVID-19 Science Task Force aufgehört, aber weil die Akademien zusammen mit dem ETH-Rat, swissuniversities und dem Nationalfonds ja Träger dieser Taskforce sind, ist die Arbeit weitergegangen. Vor allem war die Pandemie auch ein Auslöser dafür, sich zu überlegen, wie die Schweiz diesen Dialog zwischen Wissenschaft und Politik und Wissenschaft und Gesellschaft aufbaut – und das ist so ein Highlight oder wichtiger Moment. Das ist sicher ein ganz wesentlicher Schritt, weil es ja nicht nur um Covid geht, sondern vor allem darum, wie dieser Dialog künftig aussehen soll, auch in anderen Fragen. Sei es Gentechnologie, Biodiversität, Energie oder Klima: All das sind Themen, wo es einen guten Übertragungsriemen vom Wissen zur Politik und zur Gesellschaft braucht. Wir haben zudem die ersten Erfahrungen – heute eher als «Learnings» bekannt – aus der Pandemie mit der Studie von Alexandra Hofmänner veröffentlicht. Dass wir dieses Thema mit den Akademien so positionieren konnten, war sicher ein Highlight.

 

Für die Akademien und alle Mitglieder des Verbunds gab es viele andere Highlights, welche nicht minder wichtig sind. Insbesondere, dass wir den Prozess für die Mehrjahresplanung 2025-2028 und damit verbunden die Umsetzung von den Beobachtungen aus der Evaluation gemeinsam eingeleitet haben.

 

Was sind denn für Sie die wichtigsten Punkte in dieser Evaluation und wie können die Akademien diese umsetzen?

Die Evaluation diente ja dazu, zu schauen, wie man diesen Verbund effizienter gestalten und damit profilieren kann, vor allem über verbindlichere Zusammenarbeit und gemeinsames Lernen. Damit entwickeln und verbessern wir uns und optimieren uns nicht einfach betriebswirtschaftlich. Zunächst soll sichtbar sein, dass wir 6 Mitglieder haben, nämlich die vier Akademien – die Akademie der Medizinischen Wissenschaften, die Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften, die Akademie der Naturwissenschaften und die Akademie der Technischen Wissenschaften – sowie die zwei Kompetenzzentren TA-SWISS und Science et Cité, und dass wir unter einem Dach sind. Transversal wirken die jungen Akademien in all unseren 6 Pfeilern. Diese Gemeinsamkeit wollen wir wirksamer machen. Die Öffentlichkeit sieht nämlich nicht nur die einzelnen Mitglieder, sondern gleichzeitig auch die Akademien als Ganzes und unsere Rolle im Wissenschaftssystem. Das war eigentlich der wichtigste Punkt. Bis im Juni 2022 müssen wir nun die Mehrjahresplanung 2025-2028 einreichen. Das war ein guter Anlass, um zu sagen: «Jetzt schauen wir nach vorne und sagen, was wir miteinander machen wollen und können» und dann zu schauen, wie wir unsere Vorhaben zusammenbringen. Das führt dazu, dass wir vom Inhalt – und das ist wichtig – vom Inhalt zur Struktur kommen. Wenn wir etwas miteinander vorantreiben wollen, müssen wir uns vor allem fragen, wie wir das tun. Aber dazu müssen wir uns zuerst darauf einigen, was für uns die wichtigsten Fragen und Aufgaben sind.

 

«Die Öffentlichkeit sieht nämlich nicht nur die einzelnen Mitglieder, sondern gleichzeitig auch die Akademien als Ganzes und unsere Rolle im Wissenschaftssystem.»

 

Wie sehen Sie denn diesen laufenden Prozess momentan?

Der Prozess hat langsam angefangen, weil wir unter Covid zuerst natürlich nur virtuelle Sitzungen abhalten konnten. Ich glaube, das ist ein typisches Beispiel, das zeigt: Wichtig ist, sich nicht nur zweidimensional über einen Bildschirm zu treffen, sondern dass man sich wirklich in Person zusammensetzen kann. Der Prozess hat dann eine gute Dynamik gewonnen, indem wir im Juni einen virtuellen Vorbereitungsworkshop für eine Séance de Réflexion im August hatten und später eine weitere im Oktober. Das ist nichts, was man schnell machen darf. Man kann nicht einfach an einem Flipchart eine neue Struktur zeichnen und ein paar Inhalte auflisten, sondern es müssen alle verstehen, worum es geht, ob wir jetzt über Covid, die Umsetzung der Evaluation bei a+ oder über irgendetwas anderes sprechen. Wir funktionieren schlecht, wenn wir einfach mit Slogans und irgendwelchen hochfahrenden Konzepten beschäftigt sind oder in sie hineingepresst werden. Wir müssen verstehen. Das ist gerade jetzt ganz wichtig, und darum haben wir ein bisschen Zeit gebraucht. Ich habe das auch dem Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) so gesagt. Das SBFI kann nicht erwarten, dass es einen Report abgibt und einen Monat später einen detaillierten Bericht darüber erhält, wie wir jeden Punkt umsetzen. Wir müssen Menschen stets aus dem Verständnis heraus abholen. Wenn man das Verständnis weckt, dann wird man auch Kreativität wecken. Starre Konzepte und Paragraphen töten die Kreativität.

 

Das Verständnis ist auch wichtig bezüglich der Impfungen, damit die Bevölkerung mitzieht. Gerade hinsichtlich Impfungen ist dieses Jahr ja viel gegangen. Zum einen die Covid-Impfung und zum anderen die Malaria-Impfung, welche jetzt die Empfehlung der WHO erhielt und bei welcher Sie ja einen grossen Beitrag dazu geleistet haben. Wo stehen wir Ihrer Meinung nach jetzt mit diesen beiden Impfungen und was steht uns noch bevor?

Das ist eine grosse Frage. Und das wäre eigentlich auch erwähnenswert als Highlight für die Wissenschaft. Erstens haben wir bei der Covid-Impfung – das muss ich immer wieder sagen – grosses Glück gehabt, dass man mit dem mRNA gerade bei der ersten Generation dieses Impfstoffs eine sehr gute Impfung erreichte. Gut heisst nicht einfach nur, dass wir eine hohe Schutzwirkung, sondern auch eine sichere Impfung haben. In der Impfstoffentwicklung – das habe ich selbst bei Malaria erlebt - ist der erste «Wurf», die erste Generation, meistens nicht so vielversprechend. Daraus lernt man sehr viel, und danach kommt die verbesserte zweite Generation. Bei der Covid-Impfung hatte man mit dem mRNA-Verfahren eigentlich schnell beeindruckenden Erfolg. Die Technik der mRNA ist kein «genetisches Experiment», sondern ein sehr natürlicher Prozess, weil man Proteine direkt in einer Zelle «ausdruckt». Das macht jede Zelle jede Sekunde in uns. Wir müssen auch bedenken – ohne Erfolge zu schmälern – dass man es bei der Covid-Impfung relativ einfach hatte. Wir müssen «lediglich» verhindern, dass das Spike-Protein an die menschlichen Zellen andockt. Das ist vom Biologischen her relativ einfach.

 

Eine Schwierigkeit anderer Dimension war, dass die Covid-Impfung vielleicht nicht optimal in die Bevölkerung hineingetragen wurde. Dort haben verschiedene Leute einfach nicht gesehen, dass auch in der Kommunikation Fakten, Wissenschaftlichkeit und Kontextbewusstsein entscheidend sind. Man konnte den Eindruck gewinnen, dass es heisst «Jetzt impfen und dann wird alles gut». Das hat dazu geführt, dass gerade die ImpfgegnerInnen gute Angriffspunkte bekommen haben. Es ist ein Jammer, dass Leute kaum vergleichen und nicht entdecken, dass viele etablierte, akzeptierte Impfungen oft schlechter sind. Ein klassisches Beispiel ist die Gelbfieberimpfung. Diese ist bezüglich Nebenwirkungen und Wirksamkeit verhältnismässig schlechter als die Corona-Impfung, aber wenn jemand nach Afrika will, lässt er sich meist problemlos gegen Gelbfieber impfen. Die Corona-Impfung hingegen schützt sehr gut, mehr als 90%, gegen die Krankheit. Anders ist die Wirkung gegenüber einer Infektion. Bei der Alpha-Variante wussten wir, dass die Schutzwirkung etwa bei 60-80% liegt. Bei der Delta-Variante ist sie zwischen 40-70%. Wenn man jetzt also 5 Millionen Leute impft, dann können – wenn wir jetzt 90% Schutzwirkung annehmen – von diesen 5 Millionen immer noch 500'000 trotz Impfung krank oder sogar schwer krank werden. Und bezüglich Infektion liegen wir bei der Deltavariante, wenn 5 Millionen Menschen geimpft sind, bei ungefähr 2,5 Millionen, die sich trotz Impfung noch infizieren können. Es ist leider nicht gut gelungen, den Leuten das verständlich zu machen, und auch, dass ein Schutz nicht nur dann da ist, wenn die Impfung 100% wirksam ist.

 

Wie sieht es denn bezüglich der Wirksamkeit bei der Malaria-Impfung aus?

Die Arbeit an der Malaria-Impfung war ein grosser Teil meines Lebensinhalts während der vergangenen 30 Jahre. Ich durfte mit meinen afrikanischen und japanischen Partnern von 1992 bis 1994 in Afrika den ersten Malaria-Impfstoffversuch weltweit bei Kindern durchführen. Dieser Impfstoff hatte nur 31% Wirksamkeit. 1994 haben wir das publiziert und danach noch einen Schlüsselversuch bei 1’200 Säuglingen durchgeführt. Der letzte Satz unseres zweiten grossen Papers hiess: «This vaccine in its current formulation is not for public health use». Aber wir haben daraus gelernt, wie man Impfstoffe testet, wenn man ein grosses Gesundheitsproblem auf der einen Seite und lange Entwicklungszeiten auf der anderen Seite hat. Da muss man sich vor allem auch überlegen – auch auf einer ethischen Dimension – wie man schneller entwickeln kann. 1994 habe ich zusammen mit Pedro Alonso, heute Direktor des Global Malaria Programms, ein Paper darüber geschrieben, wie man die Impfstoffentwicklung schneller vorantreiben kann, sowohl auf ethisch als auch auf wissenschaftlich korrekte Weise.

 

Dieses Paper dient übrigens als Grundlage dafür, wie man den Ebola-Impfstoff innerhalb von etwas mehr als einem Jahr entwickeln konnte, genauso wie jetzt die Covid-Impfung. Viele Leute vergessen, dass das nicht einfach eine überstürzte unethische Entwicklung war. Es beelendet mich, dass man das nicht besser kommunizieren kann. Der Malaria-Impfstoff, der seit dem 6. Oktober 2021 für Kinder in hochendemischen Gebieten empfohlen ist – also dort, wo die Übertragung hoch ist – hat auch nur eine Wirksamkeit von 30-50%. Aber wenn man sich überlegt, dass man derzeit in Afrika südlich der Sahara pro Jahr ungefähr 400'000 bis 600'000 Todesfälle bei Kindern hat und diese auf die Hälfte reduzieren kann, hilft das sowohl den Menschen wie auch dem Gesundheitssystem. Es gibt ja nicht nur Todesfälle, sondern auch Krankheitsfälle. In ärmeren Gesellschaften und bei derart brennenden Problemen wird nicht darüber diskutiert, einen teilweise wirksamen Impfstoff einzubringen, da wir in solchen Situationen immer zwischen Risiko und Nutzen abwägen. Dabei ist die Impfung kein Zaubermittel, sondern Teil eines wirksamen Massnahmenbündels, beispielsweise bei Malaria zusammen mit dem insektizidbehandelten Mückennetz und der frühen Diagnose und raschen Behandlung.

 

So müssten wir eigentlich bei jedem neuen Impfstoff denken. Wenn ich mich impfen lasse, kann ich zwar sagen: «Das sind die Nebenwirkungen und das ist das, was ich gewinne, darum lasse ich mich nicht impfen». Aber dann ist da noch die zweite Risiko-Nutzen-Abklärung bezüglich der Gesellschaft. Und diese ist eigentlich die Aufgabe des Staats. Der Staat muss sagen: «In diesem Land leben 8 Millionen Menschen, und ich habe einen Impfstoff. Es gibt keinen Impfstoff und kein Medikament ohne Nebenwirkungen. Kann ich mit diesen Risiken zu meiner Bevölkerung gehen?». Diese Abklärungen müssen dominieren und sie reflektieren die ethische Dimension auf der Public Health-Ebene und die Verantwortung des Staates.

 

«Eine Schwierigkeit anderer Dimension war, dass die Covid-Impfung vielleicht nicht optimal in die Bevölkerung hineingetragen wurde.»

 

Was wünschen Sie sich für das Jahr 2022 bezüglich der Akademien, der Pandemie und persönlich?

Das ist alles miteinander verknüpft. Bezüglich der Akademien wünsche ich mir, dass wir das Momentum und das Engagement für die Planung der bevorstehenden Jahre und für diese leichte Reorganisation der Zusammenarbeit halten können. Ich wünsche mir, dass wir alle in das gleiche Boot steigen und diesen Prozess abschliessen können. Und darin liegt auch mein persönlicher Wunsch, damit ich sagen kann: «Mir wurde die Aufgabe übertragen, diesen Übergang zu schaffen. Und jetzt sind die Akademien so weit, dass sie sich öffnen und sagen, sie brauchen einen Präsidenten oder eine Präsidentin, der/die da mitmachen möchte.» Wir können kaum jemand Neues holen, wenn die Situation unklar erscheint und man Insiderkenntnisse benötigt, um das Amt zu erfüllen. Ein sehr wichtiger Punkt ist auch: Die Akademien sollen nicht nur von alten Männern geleitet werden. Ich werde nächstes Jahr 70, und man muss daran denken, wer nachkommen kann, will und wird. Das Wichtigste ist dabei, was man weitergeben kann und wie viele Leute man ausbildet und sicher nicht einfach darauf zu achten, was man selbst gemacht hat.

 

Für die Pandemie gilt, dass wir das Vertrauen der Bevölkerung und der PolitikerInnen in die Wissenschaft stärken müssen. Dazu müssen wir aufzeigen, was die Wissenschaft weiss, was sie nicht weiss und wie sie sich in den Übertragungsriemen von Wissen zu Gesellschaft zu Politik einsetzen kann. Nochmals, wir haben noch viele andere Herausforderungen nebst Sars-CoV-2. Auch bei Themen wie Klima und Energie muss das noch viel besser funktionieren. Ich wünsche mir, dass wir wirklich einen Ausblick schaffen können. Dass die Pandemie vorbei geht, ist natürlich unser aller Wunsch. Wir müssen aber erkennen, dass wir mit diesem Virus weiterleben müssen. Ausbrüche wird es weiterhin geben. Darum müssen die Public Health-Strategien so sein, dass das soziale Gewebe, welches das wirtschaftliche trägt, atmen kann. In einer solchen Situation müssen wir stets behutsam schauen, was wir machen können, weil nur das Ausblick gibt. So möchten wir alle ins neue Jahr gehen, denn so können wir nachhaltige Schäden in der Gesellschaft verhindern.

 

Biographie


Marcel Tanner erwarb einen Doktortitel in medizinischer Biologie an der Universität Basel und ein MPH an der Universität London. Bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2017 war er Professor und Inhaber des Lehrstuhls für Epidemiologie/Public Health und Medizinische Parasitologie an der naturwissenschaftlichen und medizinischen Fakultät der Universität Basel. Von 1997–2015 war er Direktor des Schweizerischen Tropen- und Public Health-Instituts. Heute ist er Präsident der Akademien der Wissenschaften Schweiz. Seit 1977 reicht seine Forschung von der Grundlagenforschung zur Zellbiologie und Immunologie von Malaria, Schistosomiasis, Trypanosomiasis, Filariasis und HIV / AIDS bis zur epidemiologischen und Public Health-Forschung zu Risikobewertung, Vulnerabilität, gesundheitlichen Auswirkungen und Distriktgesundheitsplanung. Er war 1992 Mitversuchsleiter der ersten afrikanischen Malaria-Impfstoffstudie und Mitleiter der meisten grossen Interventionsstudien zu Malaria und Bilharziose. Neben der Forschung standen der Aufbau von Kapazitäten und die Nord-Süd-Partnerschaft im Mittelpunkt des Interesses, was sich in der Entwicklung des Ifakara Health Institute in Tansania widerspiegelt. Er fungiert auch als Berater für Forschung und Kontrolle übertragbarer Krankheiten, die Stärkung der Gesundheitssysteme und den Aufbau von Kapazitäten in verschiedenen nationalen und internationalen Agenturen/Gremien und in Gremien/Komitees wie z. B. Universitätsspital Basel, WHO/SAG, Wellcome Trust, DNDi, FIND, INCLEN-Trust, Gebert-Rüf Stiftung und Botnar Stiftung. Seit 2017 ist er Präsident der EKSG.
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