Interview: Alexandra von Ascheraden
27. Oktober 2022
Werner Flück, der Huemul hat in zweihundert Jahren allein 21 Mal seinen wissenschaftlichen Namen gewechselt, weil niemand so recht wusste, wo man ihn einordnen soll. Dann ist er auch noch so zutraulich, dass es nicht einmal ein Gewehr braucht um ihn zu jagen. Was ist das für ein seltsames Tier, für das sie sich so einsetzen?
Flück: Der Patagonische Huemul oder Südandenhirsch gehört biologisch ganz klar zu den Hirschen, auch wenn man ihn früher lange für eine Kamelart oder ein seltsames Pferd hielt. Vor allem aber ist der Huemul geradezu lächerlich zutraulich zum Menschen. Das macht ihn angreifbar.
Was meinen sie mit lächerlich zutraulich?
Flück: Mir ist schon passiert, dass ich ein Huemul Weibchen beim Äsen filmte und plötzlich kam sie in aller Ruhe heran, schnupperte an meinem Bein und äste dann gemächlich weiter. Für diese Tiere ist der Mensch eher eine Art seltsamer Baum. Schmackhaft sind Huemul leider auch. Also wurden sie lange Zeit als leichte Beute stark bejagt. Dazu brauchte es nicht einmal ein Gewehr, man konnte sie auch mit einem Messer oder sogar einem Knebel erlegen.
Mittlerweile hat der Huemul den höchsten Schutzstatus bekommen. Die Weltnaturschutzunion IUCN hat ihn auf die Rote Liste gesetzt. Hat das in Argentinien geholfen?
Flück: Nur in der Theorie. In Nationalparks mit Huemul dürfen ansässige Bauern weiterhin Tiere halten, allerdings ist deren Anzahl theoretisch begrenzt. Nur kontrolliert das niemand. Der argentinische Staat ist finanziell völlig am Boden und die Konzepte für den Schutz kommen über das Papier, auf dem sie geschrieben sind, nicht hinaus.
Es gab für den Huemul mehr Kochrezepte als wissenschaftliche Literatur. Das änderte sich erst, als Sie und ihre Frau, die Biologin Jo Anne Smith-Flück, in den 1990er Jahren in Argentinien an den Huemul zu forschen begannen. Wie kam das?
Flück: Wir sind beide auf Cerviden, also Hirschartige, spezialisiert. Nach meiner Doktorarbeit in den USA kamen wir nach Patagonien, weil es hier noch viel Unerforschtes auf unserem Gebiet gab. Ursprünglich wollten wir sehen, welchen Einfluss die von Europäern seit 1911 hier eingebrachten und stark invasiven Rothirsche haben. Dabei stellten wir fest, dass es so gut wie kein Wissen über die eigentlich heimischen Huemul gab, die vom Menschen in abgelegene Gebiete verdrängt worden waren. Kaum jemand hatte je einen Huemul gesichtet. Schliesslich schrieb meine Frau ihre Doktorarbeit über dieses Thema und verfasste später das erste Buch über diese Hirschart.
Es gab vor vorher kaum Forschung zum Huemul. So stammen neunzig Prozent der wissenschaftlichen Veröffentlichungen zu diesem Thema von Ihnen beiden. Was sind die grundlegenden Erkenntnisse, die Sie in all den Jahren gewonnen haben?
Flück: Die Tiere sind so weit zurückgedrängt, dass sie nur noch in stark fragmentierten Lebensräumen entlang eines zweitausend Kilometer langen Streifens im Grenzgebirge zwischen Chile und Argentinien leben. Wir haben nachgewiesen, dass dieser Hirsch in Patagonien weit verbreitet war, bevor die Siedler ihm zugesetzt haben. Dazu haben wir historische Berichte ab dem Jahr 1521 ausgewertet, aber auch Trophäensammlungen, Abwurfstangen, archäologische Funde. Ihren deutschen Namen Südandenhirsch tragen die Tiere nachweislich zu Unrecht, auch wenn sie heute nur noch in abgelegenen Gebieten der Anden zu finden sind.
Wie lebten die Huemul, bevor sie durch den Menschen verdrängt wurden?
Flück: Die Tiere nahmen, wie das Schweizer Rotwild auch, Sommereinstand in den Bergen. Im Winter stiegen sie ins Tal ab, wo weniger Schnee lag und Nahrung noch reichlich vorhanden war. Durch die zunehmende Besiedlung und Bejagung überlebten nur die Tiere, die nicht mehr lernten, abzusteigen. Das heisst aber, dass sie im Winter mit Schneemassen und Nahrungsmangel zu kämpfen haben. Der generelle Zustand der Huemul, die wir untersuchen konnten, ist sehr schlecht.
Woran leiden die Tiere und was sind die Ursachen?
Flück: Ihnen fehlen gewisse Mineralien wie Selen, Kupfer und Mangan, die sie früher in den Wintereinständen mit der Nahrung aufnehmen konnten. In den Bergen fehlen diese. Das führt zu Knochen- und Gelenkschäden, die die Huemul beim Laufen behindern. Häufig fehlen auch Zähne und das hemmt die Nahrungsaufnahme. Die Tiere leiden unter Schmerzen und sterben vorzeitig.
Was kann man da tun?
Flück: Ich glaube, dass wir den Mangel mit Salzlecksteinen, die mit den entsprechenden Mineralien versehen sind, aufheben können. Da die Populationen aber sehr versprengt und kaum zugänglich sind, können wir den wildlebenden Tieren nicht helfen. Wir bauen gerade eine erste Zuchtstation für Huemul auf, dort können wir solche Dinge ausprobieren. Gerade diesen August haben wir dort den ersten Hirsch und drei Hirschkühe eingebracht, die in einem hundert Hektar grossen eingezäunten Gelände Schutz finden, aber halbwild leben. Wir können sie aber im Bedarfsfall tierärztlich versorgen. Wenn wir etwa zwanzig Tiere haben beginnen wir, sie in geeignete Gebiete wieder auszuwildern.
Ausser ihrer Aufzuchtstation gibt es nur eine einzige weitere. Diese liegt in Chile, wo noch weitere tausend Huemul in Freiheit überdauert haben. Wie ist die Zusammenarbeit?
Flück: Wir kennen uns gut und tauschen uns aus. Leider macht die Bürokratie es uns unmöglich, etwa Tiere oder auch nur Sperma über die Landesgrenzen auszutauschen. Durch die stark fragmentierten Lebensräume ist die Genetik der einzelnen Populationen sehr ähnlich. Es wäre natürlich ideal, wir könnten etwa für zwei Jahre einen Hirsch aus Chile in unsere Aufzuchtstation bringen und umgekehrt. Da stehen uns noch viele Hürden im Weg.
Die Finanzierung der ersten Markierung und der Zuchtstation gelang vor allem über Gelder der Basler Erlenmeyer-Stiftung. Nun suchen sie weitere Gelder, um ihren dauerhaften Betrieb zu sichern, da der argentinische Staat finanziell so ausgeblutet ist, dass er das Projekt zwar befürwortet, aber kein Geld zuschiessen kann. Was steckt alles im Aufbau einer solchen Station?
Flück: Die Bewilligung haben wir 2018 erhalten. Seitdem sind wir am Schuften. Allein schon mussten wir fünf Kilometer Zaun ziehen, der drei Meter hoch und elektrifiziert ist, um die Huemul sicher einzuhegen. Dazu kommen nochmals 2,5 Kilometer Zäune innerhalb des Geländes, die etwas niedriger sind und uns das Unterteilen erlauben. Das Material musste über hunderte Kilometer aus der nächsten grösseren Stadt mit Lastwagen über schlechte Strassen herangeschafft werden. Ab dem Abladeplatz mussten wir das Material dann tragen. Dort oben gibt es keine befestigten Wege, die von Camions befahren werden könnten. Das waren Tonnen an Material. Als Pfosten bekamen wir von der Ölindustrie ausgemusterte Bohrröhren gespendet. Die waren zwar gratis, aber sehr schwer. Natürlich musst dann dort oben jeder einzelne Pfosten von Hand eingegraben werden.
Mit dem Zaun allein ist es für eine Forschungsstation vermutlich nicht getan.
Flück: Dank Geldern von der Basler Erlenmeyer-Stiftung konnten wir zwei Allradjeeps, ein Boot und vor allem ein einfaches Arbeitsgebäude errichten, in dem wir die Tiere auch untersuchen können. Es war schon allein eine Herausforderung eine Firma zu finden, die einen der Räume darin als Laborraum einrichten kann. Noch fehlen uns mangels Finanzierung viele Gerätschaften. Immerhin ist der Raum gut sterilisierbar und isoliert.
Was braucht es als nächstes?
Flück: Es ist vieles möglich. Aber ohne Geld ist fast gar nichts möglich. Für den weiteren Betrieb der Station brauchen wir etwa 65’000 Dollar pro Jahr, damit wir ein Minimum an Personal anstellen und Gas, Strom, Feuerholz, Tierarzt, Medikamente, Zaunreparaturen, Mobilitätskosten und ähnliches finanzieren können. Ein Traum wäre natürlich, wenn wir noch weitere einmalige Investitionen finanzieren könnten.
Welche Investitionen würden ihnen den Betrieb erleichtern?
Flück: Toll wäre es, die schlechte Dreckstrasse bis zum Eingang des Aufzuchtzentrums in eine gute Schotterstrasse umwandeln zu können. Die allein kostet 5’000 Dollar und die haben wir nicht. So könnte man die Station per Jeep erreichen und das Material einfacher transportieren. Ein Stromgenerator, Betäubungsgewehre, Feuerlöscher, ein kleines Haus als Unterkunft, Geld um noch mehr Tiere fürs Zentrum fangen zu können, so dass die Nachzucht schneller vorangeht. All das ist kein Luxus, aber nicht umsonst zu haben. Und ein zusätzlicher Jeep wäre sehr hilfreich. Der allein kostet 60’000 Dollar. In Argentinien liegt die Inflation teilweise bei 40 Prozent. Ein etablierter staatsangestellter Wissenschaftler verdient etwa tausend Dollar pro Monat. Viele Leute wissen nicht, wie sie zurechtkommen sollen und so können wir nicht auf einheimische Spenden hoffen. Der Staat ist ausgeblutet und kann uns finanziell nicht helfen. Vielleicht helfen uns ja die SchweizerInnen. Der Fortbestand der Huemul hängt am seidenen Faden. Wenn wir jetzt nicht handeln, ist es zu spät.
Website der Stiftung: www.shoonem.ch
Werner Flück (*1958) stammt aus Binningen/Bottmingen BL. Nach der Matura ging er in die USA um Wildtierökologie zu studieren, da diese Studienrichtung in der Schweiz nicht angeboten wurde. Dort lernte er auch seine Frau kennen, die ebenfalls engagierte Biologin ist. Nach Flücks Doktorarbeit in Wildtierpathologie, für die er sich bereits mit Hirschen beschäftigt hatte, ging das Paar auf eigene Kosten nach Argentinien. Dort wollte es am aus Europa eingeführten, dort invasiven Rotwild und dem endemischen heimischen Hirsch, dem Huemul, forschen.
Flück forscht seit zwanzig Jahren als Wissenschaftler beim argentinischen Nationalfonds CONICET. Zudem ist er über das Schweizerische Tropen- und Public Health-Institut Basel mit der Universität Basel assoziiert und Mitglied des Netzwerks der Akademien der Wissenschaften Schweiz. Die Basler Erlenmeyer-Stiftung finanzierte das Huemul Forschungsprojekt, und 2018 erhielt Flück nach hartnäckigen, langjährigen Vorarbeiten die Erlaubnis, damit die erste und einzige argentinische Aufzuchtstation für Huemul aufzubauen. Diesen August, also im Argentinischen Winter, konnte er dort die ersten Tiere einsetzen. Für den laufenden Betrieb sucht er nun nach Geldern über seine Stiftung shoonem.ch
Dieser mittelgrosse Hirsch ist der seltenste der Welt. Der Huemul (Hippocamelus bisulcus) war einst in ganz Patagonien heimisch. Er erreicht ein Gewicht von bis zu hundert Kilogramm. Durch den Jagddruck der europäischen und nordamerikanischen Kolonisten und die Bedrohung durch halbwild lebende Hirtenhunde wurde das Wanderverhalten der Huemul eliminiert. Sie ziehen nicht mehr in ihre Winterhabitate in den fruchtbaren Ebenen, sondern verbleiben ganzjährig in schwer zugänglichen Teilen der Anden Argentiniens und Chiles. Dort leben sie bis auf zweitausend Meter Höhe in kleinen, isolierten Gruppen und leiden unter Mangelernährung.
Huemul sind vom Aussterben bedroht und geniessen hohen Schutzstatus. Die Schutzgebiete dürfen aber weiterhin von den ansässigen Bauern genutzt werden und die dort geltenden Höchstzahlen für Nutzvieh werden nicht kontrolliert, da der argentinische Staat unter chronischem Geldmangel leidet.
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