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Wolf Linder: «Ich kann der Nutzendiskussion wenig abgewinnen»

 

Wolf Linder war von 1995 bis 2000 im Vorstand der SAGW. Im Interview erklärt er, warum die Sozial-und Geisteswissenschaften für die Gesellschaft unverzichtbar sind und mit welchen Herausforderungen die Akademie konfrontiert war und ist.

 

Autorin: Astrid Tomczak

18. November 2021

 

Astrid Tomczak: Herr Linder, die SAGW feiert 75-Jahr-Jubiläum. Was sind Ihre Wünsche fürs Geburtstagskind?

 

Wolf Linder: Was man einem Geburtstagskind halt so wünscht: Viel Glück und gedeihliche Weiterentwicklung. Also: Dass die Akademie als starke, vernünftige und gemeinsame Stimme der Geistes- und Sozialwissenschaften wahrgenommen wird.

 

Damit sprechen Sie einen interessanten Punkt an: Die Sozialwissenschaften. Im Kürzel der Akademie fehlen diese… Dabei waren Sie als Politologe im Vorstand der SAGW.

 

In den 90er Jahren waren die Sozialwissenschaften in diesem Gremium tatsächlich inexistent – und es war nicht einfach, das zu ändern. Zwei Ereignisse trugen zum Umdenken bei. Zum einen die Gründung des Clubs der Sozialwissenschaften – später Rat der Sozialwissenschaften. Das war eine gemeinsame und erfolgreiche Initiative von Soziologie, Psychologie, Bildungswissenschaften und Politologie.  Zur Anerkennung beigetragen hat sodann ein grosses Nationalfondsprogramm, «Demain la suisse». Heute sind unter dem Dach der SAGW die Geistes- UND Sozialwissenschaften versammelt.

 

Sie waren von 1995 bis 2000 im Vorstand. Was waren in dieser Zeit die grössten Highlights?

 

Ein Highlight habe ich schon genannt, dass es nämlich gelungen ist, die Sozialwissenschaft in die Akademie zu integrieren. Ein anderes war die Modernisierung des Betriebs – damit meine ich beispielsweise, dass Projekte definierte Ziele und Laufzeiten hatten und nicht einfach ewig vorangetrieben wurden. Man kam auch zur Erkenntnis, dass Sozialwissenschaften eine Infrastruktur brauchen und nicht nur Professuren an den Universitäten – also etwa Datensammlungen, auf die man zurückgreifen kann etc. Für die Naturwissenschaften war das alles klar, aber bei den Geistes- und Sozialwissenschaften war das ein ganz neuer Gedanke. Die Einrichtung des digitalisierten Datenarchivs «FORS» in Lausanne oder die nachhaltige Finanzierung des Année Politique durch die SAGW sind Beispiele für dieses neue Denken. 

 

Unter dem Dach der SAGW versammeln sich viele unterschiedliche akademische Disziplinen, die kaum was miteinander zu tun haben. Auf welchen gemeinsamen Nenner lassen sich ein Politologe und eine Musikwissenschaftlerin bringen?

 

Zunächst: DIE Wissenschaft per se gibt es nicht, sie zerfällt in Einzelwissenschaften. Deshalb ist die ehemalige Universität eher zur Diversität geworden. Und neben der Vielfalt der Wissenschaft findet man oft auch disziplinäre Einfalt. Damit ist auch schon gesagt: Interdsiziplinarität ist nicht einfach. Dass einzelne Professorinnen und Professoren mehr als nur ihr Gärtchen hegen und pflegen ist eher die Ausnahme als die Regel. Nun gibt es aber Faktoren, welche die Interdisziplinarität fördern: Um zu Geld und Einfluss in der Forschung zu gelangen, muss man sich organisieren und mit einer Stimme reden. Das ist ein Grund, warum sich die verschiedenen Disziplinen zusammenraufen. Innerhalb der Wissenschaft gelingt die Interdiszplinarität nur mit gemeinsamen Forschungsfragen – bezogen auf die SAGW wäre das beispielsweise die Nachhaltigkeitsforschung. Als Jurist und Politologe weiss ich aus eigener Erfahrung, dass in den verschiedenen Disziplinen eine andere Sprache gesprochen wird. Juristen betonen das Normative, bei den Politologen spielen empirische Faktoren mit. Das sind zwei verschiedene Welten, die eine gemeinsame Sprache erst finden müssen. 

 

Geistes- und Sozialwissenschaften stehen immer wieder unter Legitimationsdruck – sie entwickeln keine Impfstoffe oder neue Technologien. Wozu braucht es sie überhaupt?

 

Diese Nutzendiskussion ist schon uralt, und ich kann ihr wenig abgewinnen. In den Worten des Wissenschaftsjournalisten Urs Hafner, der in der Jubiläumsschrift zitiert wird: «Die Infragestellung des rein wirtschaftlichen Nutzens ist der grösste Nutzen der Geisteswissenschaften.» Warum geht’s denn den Leuten nicht in den Kopf, dass Nachhaltigkeit wichtig ist? Das kann kein Physiker erklären, dafür braucht es andere Leute. Oder das Beispiel Corona: Für die zunehmende Polarisierung und die Verängstigung der Menschen hat keine Epidemiologin eine Lösung. Aber Soziologie, Psychologie und Politologie werden zu oft erst im Nachhinein auf den Plan gerufen. Sozial-und Geisteswissenschaften werden immer noch als Hilfswissenschaften angeschaut – das zu ändern ist zwar kein Kampf gegen Windmühlen, aber nahezu. Da endet auch schnell der Traum der Interdisziplinarität: Das Geld fliesst in hochspezialisierte Forschung, die industriell verwertbar ist. Damit stellt sich die Wissenschaft in den Dienst der Verwertbarkeit.

 

Das ist eine ziemlich pessimistische Bestandesaufnahme. Welchen Beitrag könnten denn Sozial-und Geisteswissenschaften liefern? 

 

Sie sind unverzichtbar, wenn es darum geht die systemischen Ursachen von Problemen anzugehen. Doch es fehlt uns heute an Strukturbewusstsein. Margareth Thatchers Satz: «Es gibt keine Gesellschaft, nur Individuen» beherrscht heute nicht nur die Gesellschaft, sondern auch weite Teile der Wissenschaft.  

 

Und bei welchen Herausforderungen wäre diese strukturelle Sicht – und damit auch das Engagement der Geistes- und Sozialwissenschaften – besonders hilfreich?

 

Ich sehe folgende Schwerpunkte: Globalisierung und Ungleichheit und damit verbunden die Flüchtlings- und Einwanderungsthematik; Nachhaltigkeit; die Frage der nationalen Unabhängigkeit und die Frage, was der Ersatz für die Bindekraft von Religion ist, die wir verloren haben. Die Migrationsfrage beispielsweise können wir nicht mit Moral lösen, wenn wir die Augen vor den Ursachen der Migration, der Struktur in den Herkunftsländern und beispielsweise der Rolle internationaler Agrarkonzerne verschliessen.

 

Welche Rolle spielt die SAGW in Zukunft?

 

Sie sollte in Brennpunkten gesellschaftlicher Spannung eine Stimme des Dialogs zwischen den Disziplinen sein.

 

Wolf Linder (Jahrgang 1944) studierte Jurisprudenz an der Universität Zürich und war zunächst als Gerichtsschreiber und juristischer Mitarbeiter in der kantonalen Verwaltung tätig, bevor er von an der Universität Konstanz ein Zweitstudium in Politikwissenschaft absolvierte und mit einer Dissertation abschloss. Von 1974 bis 1982 war Wolf Linder Mitglied des Grossen Rates des Kantons Thurgau (SP-Fraktion). 1982 übernahm er eine ordentliche Professur für Politik- und Verwaltungswissenschaften am IDHEAP in Lausanne bevor er 1987 den Ruf auf die ordentliche Professur für Politikwissenschaft an die Universität Bern erhielt. Er formte das Forschungszentrum für schweizerische Politik in ein Institut für Politikwissenschaft (IPW) um, wo Politikwissenschaft zunächst im Nebenfach und seit 1995 im Hauptfach angeboten wird. Nebst seiner Forschungs- und Lehrtätigkeit engagierte er sich als Experte für Bund und Kantone sowie in- und ausländische Entwicklungsorganisationen. Von 1995 bis 2000 war er im Vorstand der SAGW, danach Mitglied des SNF-Forschungsrats. Von 2011 bis 2019 war Linder Mitglied des Schweizerischen Wissenschaftsrats.

 

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