Autorin: Sarah Vermij
Von allen Rechtsgebieten liegt mir das Medizinrecht am meisten am Herzen. Vor allem die Arzt-Patienten-Beziehung interessiert mich sehr, weil sie so nah am Menschen ist und so interdisziplinär zugleich.
Eine Herausforderung der Zentralen Ethikkommission (ZEK), wo Pflege, Medizin, Ethik, und Recht vertreten sind, ist, dass man immer wieder bereit sein muss, dem Gegenüber wirklich zuzuhören. Meine Perspektive ist ja weder die einzig mögliche noch die einzig richtige. Wir pflegen in der ZEK eine offene Gesprächskultur mit gegenseitigem Respekt und Wertschätzung, wo ein Prof. Dr. Med. und eine Pflegefachperson einander auf Augenhöhe begegnen. Regelmässig kommt es vor, dass ZEK-Mitglieder mich darauf aufmerksam machen, dass eine gesetzliche Regelung der Praxis gar nicht Stand hält. Obwohl immer auch anstrengend, erlebe ich das als zutiefst anregend und bereichernd.
Ich bin in vielen Rechtsgebieten innerhalb des Zivilgesetzbuches aktiv, beschäftige mich z. B. mit Familienrecht, Erwachsenenschutzrecht und Personenrecht, aber auch mit juristischer Methodik. Dieser breite Hintergrund hilft mir, nicht beim Wortlaut einer Gesetzesbestimmung stehen zu bleiben, sondern zu fragen: Was meint diese Norm, was ist der tiefere Sinn? Das kann ich auch bei anderen Texten fragen, etwa: Wenn jemand in seiner Patientenverfügung schreibt, dass er «keine Schläuche» wolle, ist damit kaum ein Blasenkatheter gemeint.
Schreckensmomente der Pandemie waren aus meiner persönlichen Sicht, als es im Herbst 2020 und 2021 zu Formen von Triage kam. Die SAMW hat Anfragen von Ärztinnen und Ärzten bekommen: «Mache ich mich jetzt strafbar? Muss ich einen Todesfall, den ich in Normalzeiten vielleicht hätte verhindern oder herauszögern können, auf dem Formular als aussergewöhnlichen Todesfall eintragen und kommt dann die Staatsanwaltschaft ins Haus?» Als Juristin vertraue ich darauf, dass die Triage-Richtlinien eine gewisse Rechtssicherheit geben, da sie verfassungsgerecht eine Lücke im Gesetz schliessen. Für Ärztinnen und Ärzte war das nicht so leicht nachzuvollziehen und eine Behandlung entgegen dem üblichen Standard haben sie als sehr belastend erlebt.
Dass es zur Triage auf Intensivstationen gekommen ist, hat meines Wissens kein Spital öffentlich zugegeben. Mindestens so schlimm finde ich das Ausmass der «stillen Triage», der Verschiebung von tausenden planbaren Eingriffen, die wegen Personal- und Gerätemangels verschoben werden mussten. Besonders störte mich, dass in den Medien lange von «Wahleingriffen» geredet wurde, als ob etwa eine Krebserkrankung und -behandlung beliebig wähl- und planbar wäre wie ein schönheitschirurgischer Eingriff. Durch das Aufschieben von Tausenden von Behandlungen haben mit Sicherheit etliche PatientInnen Schaden genommen, z. B. wegen Metastasen bei Krebs. Darüber haben die Gesundheitsfachpersonen wahrscheinlich gegenüber PatientInnen und Angehörigen nicht immer transparent kommuniziert. Ich wünsche mir sehr, dass wir das noch gut aufarbeiten.
Bevor die nächste Welle kommt, müssen wir darüber nachdenken, wie wir den Umgang mit akuter Ressourcenknappheit juristisch besser abstützen können. Nicht nur in der Intensivmedizin, sondern im gesamten System. Mir ist in den beiden Pandemiejahren klar geworden, wie wichtig die Zusammenarbeit von den Akademien mit Behörden und politischen AkteurInnen ist. Das Fachwissen sollte nicht nur im Notfall abgeholt werden. Es ist von Seiten der Akademien viel Bereitschaft zur Zusammenarbeit da!
Dieser Artikel wurde im Jahresbericht 2021 der Akademien der Wissenschaften Schweiz veröffentlicht.
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