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Integrität in der Wissenschaft 2.0

 

Der Zugang zu Daten und Forschungsresultaten ist über Open Science einfach wie nie. Die wissenschaftlichen Praktiken ändern sich. Die Öffentlichkeit verlangt Rechenschaft über Kosten und Nutzen und erwartet integres Verhalten der Forschungsgemeinde. Konkurrenzdruck und die Zunahme von Aufgaben können Forschende jedoch in Versuchung bringen, die Regeln zur wissenschaftlichen Integrität zu umgehen. Der neue Kodex zur wissenschaftlichen Integrität greift die Problematik auf und zeigt, welche Grundprinzipien gelten und wie mit Verstössen umzugehen ist. Er wurde jetzt in Bern vorgestellt und engagiert diskutiert.

 

Autorin: Alexandra von Ascheraden

Fotos: Eric Schmid

30. September 2021

 

«Wir haben Vierlinge bekommen», verkündete Edwin Constable, Präsident der ExpertInnengruppe Wissenschaftliche Integrität, am Event «Integrität 2.0: Kodex, Karriere und neue Kultur». Die von Astrid Tomczak moderierte Veranstaltung fand in hybrider Form online und im Berner Generationenhaus statt. Mit den Vierlingen meinte Constable den «Kodex zur wissenschaftlichen Integrität», der soeben zeitgleich in allen Landessprachen und auf Englisch erschienen ist. Das soll ihn von Anfang an breit zugänglich machen. Die BFI-Partner Akademien der Wissenschaften Schweiz, der Schweizerische Nationalfonds (SNF), swissuniversities, Innosuisse, ETH-Rat sowie sämtliche Schweizer Hochschulen haben ihn prominent auf ihren Webseiten aufgeschaltet. Er ersetzt die in die Jahre gekommenen «Grundsätze und Verfahrensregeln zur wissenschaftlichen Integrität» von 2008. 

Die Kommission hat den alten Text gar nicht erst überarbeitet. Sie hat einen komplett neuen geschrieben und den Europäischen Verhaltenskodex für Integrität in der Forschung (ALLEA) gleich miteinbezogen. Das wissenschaftliche Umfeld hat sich seit 2008 enorm verändert. Neue Publikationsarten, Social Media und Big Data eröffnen Möglichkeiten, die man vor 13 Jahren kaum erahnen konnte.

«Der neue Kodex soll gute wissenschaftliche Praxis unter den heutigen Arbeitsbedingungen definieren», erklärte Regina E. Aebi-Müller, Mitglied der Kommission Wissenschaftliche Integrität, in ihrem einführenden Vortrag, «er richtet sich ausdrücklich gleichermassen an die wissenschaftliche Forschung wie an die Lehre und Ausbildung.» Sie erhofft sich, dass der Kodex zur Stärkung der Wissenschaftskultur beiträgt und NachwuchswissenschaftlerInnen befähigt und bestärkt. 

 

Das wünschte sich auch Lucas Müller, Sprecher der Jungen Akademie Schweiz in der anschliessenden Diskussion:

«In der Wissenschaft nehmen Wettbewerb, finanzielle Engpässe und administrative Belastungen immer weiter zu. Der Druck kann zu Fehlverhalten verleiten. Um so wichtiger ist es, Strukturen und Rahmenbedingungen so aufzustellen, dass sie integres Verhalten fördern.»

 

Der Druck möglichst viel zu publizieren sei weiterhin ein Problem. Wenn dann ein Resultat nicht den Erwartungen entspreche könne er dazu führen, ein paar Ecken abzurunden, auf dass die Ergebnisse besser publiziert werden könnten, so Matthias Egger, Präsident des SNF. Beim SNF habe man verschiedene Massnahmen in der Pipeline, um diesem Druck entgegen zu wirken. So soll die Länge der Publikationsliste keine grosse Rolle mehr spielen und der Impact Factor der Journals gar nicht mehr berücksichtigt werden.

 

«Der Kodex ist ein Beitrag zur Stärkung der Wissenschaftskultur. Es ist wichtig, dass wir in der Schweiz zunehmend einen Konsens darüber finden, was gute wissenschaftliche Praxis ist und wie bei Verstössen vorzugehen ist», ergänzte Regina Aebi-Müller.

 

Die Idee ist nicht, die Konkurrenz zwischen den Forschenden abzuschaffen. Schweizer Forscherinnen und Forscher stehen im Wettbewerb mit der weltweiten Wissenschaftscommunity. «Dieser Wettbewerb ist gut für die Forschung. Er muss nicht dazu führen, dass man die Ellbogen ausfährt. Es soll Konsens herrschen, dass Verstösse kein Kavaliersdelikt sind», sagte Astrid Epiney, Vizepräsidentin swissuniversities.

 

Um dieses Denken von Anfang an zu verankern sei es wichtig, den Kodex so früh wie möglich an die Studierenden heranzutragen. Dozierende müssten als Mentorinnen und Mentoren fungieren, die korrektes Verhalten an Beispielen mit ihnen übten, schlug Michael Hengartner vor, Präsident des ETH-Rats.

 

Lucas Müller merkte im Namen der Jungen Akademie an: «Die Leute sind ambitiös und das ist gut so, so lange der Umgang kollegial bleibt. In manchen Labors wird allerdings Ellbogenverhalten geschaffen. Da braucht es Vorbildfunktionen und konkrete Leitlinien, was Plagiate sind, wie gut zitiert wird.» Auf dem Weg dahin sei es aber auch wichtig, die Jobsituation für ambitionierte Leute im Mittelbau zu verbessern.

Der Kodex solle helfen, ein gemeinsames Verständnis zu generieren, erklärte Hengartner weiter. Die Herausforderungen sei nun, den gefundenen Konsens ins rechtliche Konstrukt hineinzubringen, das ja oft kantonal sei: «Schon personenbezogene Daten von einem Ort an den anderen zu transferieren ist nicht einfach.» 

 

Wenn ein Fall auftritt stellt sich jeweils die Herausforderung, ExpertInnen aus dem entsprechenden Fachgebiet für die Untersuchung zu finden. Deshalb erarbeitet die Schweizer Hochschuldirektorenkonferenz gerade die Rahmenbedingungen für ein nationales Kompetenzzentrum mit einem ExpertInnenpool, wie Astrid Epiney erläuterte. Sie führte aus: «Bei uns in der Schweiz könnte eine solches Kompetenzzentrum allerdings nur unterstützende Funktion haben. Aus rechtlichen Gründen muss die betroffene Institution die Untersuchung selbst durchführen und über Massnahmen entscheiden.»

 

Matthias Egger zeigte seine Begeisterung offen:

«Eine solche Stelle wäre Revolution für das Schweizer Wissenschaftssystem.»

 

Aus dem In- und Ausland kenne man Fälle, in denen Universitäten mit einer internen Lösung überfordert seien. Wegen der unvermeidbaren Interessenkonflikte brauche es manchmal eine unabhängige Stelle. Er sagte weiter: «Das wäre ein grosser Schritt in die richtige Richtung. Schweden hat vor kurzem eine solche Stelle eingeführt. Sie wurde mit Integritätsfällen überschwemmt. Bereits im ersten Jahr waren es fünfzig. Diese Zahlen machen natürlich nachdenklich, aber sie sind nicht auf die Schweiz übertragbar. Leider wissen wir nur wenig darüber, was in der Schweiz geht.»

 

Der Prozess ist mit der Herausgabe des Kodex «Integrität 2.0» nicht ansatzweise abgeschlossen. Das ist allen Beteiligten klar. Edwin Constable brachte das passend zu seinem Eingangszitat so auf den Punkt: «Wie alle Babys muss auch dieses reifen und sich entwickeln und bekommt womöglich später Geschwister. Als nächstes wollen wir ein Positionspapier zu Compliance erarbeiten. Ich würde auch gern ein Dokument mit konkreten Beispielen von Plagiaten erarbeiten. Das würde den Untersuchungskommissionen erleichtern, kohärent zu handeln.» 

 

Er betonte auch, dass die Mitglieder der ExpertInnengruppe gern bereit seien, einzelne Universitäten zu besuchen, um den Kodex vorzustellen und Fragen zu beantworten. 

 

Claudia Appenzeller, Generalsekretärin der Akademien der Wissenschaften resümierte bei ihrer Abmoderation: «Kodex zur Integrität 2.0, 3.0, 4.0 - das ist eine gute Dynamik. Wir sollten daran festhalten: In Zeiten wie heute ist eine ständige Weiterentwicklung unabdingbar!»

Ergebnisse des Mentimeters

Während der Veranstaltung konnte das Publikum über das intuitiv zu bedienende Tool «Mentimeter» eigene Erfahrungen einbringen. Hier die Antworten auf die Frage nach Voraussetzungen für eine gelebte Wissenschaftliche Integrität. Je grösser ein Wort geschrieben ist, desto häufiger wurde es vom Publikum genannt.
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Karin M. Spycher

Leiterin Wissenschaftliche Integrität
Haus der Akademien
Laupenstrasse 7
Postfach
3001 Bern


#SwissCodeIntegrity


Bitte beachten sie, dass wir weder eine Beratungs- noch Auskunftsstelle für Fälle im Bereich wissenschaftliche Integrität sind.