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Gertrud Woker: Die Chemikerin, die mutig gegen den Giftgaskrieg kämpfte

 

Sie war die erste Chemieprofessorin im deutschsprachigen Raum, engagierte sich für den Frieden und die Rechte der Frauen: die Bernerin Gertrud Woker (1878-1968). Obwohl sie bedeutende wissenschaftliche Beiträge leistete, ist sie in der Schweiz kaum bekannt. Jetzt läuft in den Kinos ein animierter Dokumentarfilm über ihr Leben und Wirken. Regisseur Fabian Chiquet, der den Film gemeinsam mit Matthias Affolter realisierte, spricht im Interview über seine Beweggründe und denkt über Parallelen zur heutigen Zeit nach.
 

Autorin: Susanne Wenger

© Bildquelle: Fotoarchiv der Universität Bern

22. September 2021

 

Fabian Chiquet, wie sind Sie auf Getrud Woker gestossen?

 

Fabian Chiquet: Ich war an einem Theaterstück über vergessene Frauenbiografien beteiligt und stiess dabei auf sie. Dann realisierte ich, dass es in der Nähe meines Wohnorts im Berner Universitätsquartier eine nach Getrud Woker benannte Strasse gibt. Ich erfuhr, dass sie ein neues Forschungsgebiet mitbegründet hatte, die Biochemie, und sich damals mit ihrer Katalyse-Forschung einen Namen gemacht hatte. Zugleich stellte ich fest, dass meine Eltern sie nicht kannten, obwohl beide als Naturwissenschaftler auf Zellbiologie spezialisiert sind. Mein Interesse war geweckt. Ich recherchierte weiter und produzierte eine Videoinstallation über Gertrud Woker. Daraus ist der Dokumentarfilm entstanden.

 

Wie erschlossen Sie sich das Wissen über Gertrud Woker?

 

Sehr wertvoll waren die Recherchen von Gerit von Leitner und Franziska Rogger. Die beiden Historikerinnen begeben sich in unserem Film erneut auf Spurensuche. Das tut auch Gertrud Wokers Grossneffe Martin Woker. Er war 16-jährig, als die Grosstante starb, und kannte diese kaum. In der Familie galt sie als «nicht ganz richtig im Kopf». Nun wollte er mehr über sie erfahren. Wir begleiteten ihn bei der Akteneinsicht in Archiven. Viel Material fand sich im Chalet im Berner Oberland, in dem Gertrud Woker lebte und das noch im Familienbesitz ist. Schliesslich kreierten wir aus den Bestandteilen ein Mosaik, um der historischen Figur möglichst gerecht zu werden. Gleichzeitig ist uns bewusst, dass wir nicht alles wissen.

 

Gertrud Woker war Wissenschaftspionierin, Friedensaktivistin und Kämpferin für Frauenrechte. In welcher Rolle fiel sie Ihnen am meisten auf?

 

Am meisten fielen uns die Eigenschaften auf, die sich durch all ihre Rollen ziehen: Idealismus und eigenständiges Denken. Sie war eine Frau mit Prinzipien, für die sie bis ans Lebensende einstand.

 

Noch im hohen Alter schrieb sie Briefe an die Mächtigen, weil sie an die Veränderbarkeit der Welt glaubte. Sie blieb hartnäckig, trotz aller Anfeindungen und Diskriminierungserfahrungen in der akademischen Welt, trotz Überwachung durch den Schweizer Nachrichtendienst. Sie hatte starke Überzeugungen, wie die Wissenschaft der Gesellschaft dienlich sein kann. Forschung für destruktive militärische Zwecke zu missbrauchen: das ging für sie gar nicht.

© Bildquelle: Die Pazifistin

War das der Grund, dass Gertrud Woker sich gegen chemische Kriegsführung einsetzte?

 

Genau. Sie hatte bei einem Forschungsaufenthalt in den USA auf einem Testgelände gesehen, wie Giftgasexperimente an Soldaten durchgeführt wurden. Das war der Öffentlichkeit nicht bekannt. Gertrud Woker wurde seit dem Ersten Weltkrieg zur unermüdlichen Warnerin. Sie schrieb ein Buch und hielt Vorträge gegen den Giftgaskrieg, später gegen die atomare Aufrüstung. In der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit, die sie mitbegründete, nahm sie eine führende Position ein.

 

Das Verhältnis von Wissenschaft und Politik wird heute stark diskutiert, etwa bei der Klimathematik. Ist Ihr Film ein Plädoyer dafür, dass Forschende wieder politischer werden sollten?

 

Nicht in dem Sinn, dass sie politisch Partei ergreifen sollen. Doch Gertrud Woker pochte auf die gesellschaftliche Verantwortung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Mit dieser Haltung ist sie heute topaktuell und relevant. Ihr Beispiel zeigt, wie eine Forscherin laut und klar auf Fakten und problematische Entwicklungen hinweist, auch wenn es unbequem ist und Widerstand auslöst. Gertrud Woker warnte schon in den 1960er-Jahren vor bleihaltigem Benzin und wurde belächelt. Heute ist Bleibenzin wegen der Folgen für die Umwelt und die Gesundheit weltweit verboten, kein Auto fährt mehr ohne Katalysator. Als Gertrud Woker gegen Giftgasbomben und die verheerenden Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung anschrieb, wurde sie als «Gas-Trudi» verunglimpft.

© Bildquelle: Fotoarchiv der Universität Bern

Will der Film Gertrud Woker nachträglich ein Denkmal setzen?

 

Auf jeden Fall, auch weil Getrud Woker international stärker anerkannt war als in der Schweiz. Es ist ein Ziel unseres Films, sie ins öffentliche Bewusstsein zu rücken und ihr die Geltung zu verschaffen, die ihr zukommt. Sie war mit ihren unkonventionellen Ideen ihrer Zeit weit voraus, diese war nicht bereit für so unerschrockene und selbstbestimmte Frauen wie sie. An der Universität Bern bekam Professorin Woker lediglich ein winziges Labor für ihre Forschung, und auch das erst nach langem Bitten. Sie musste wegen ihres mutigen Engagements viel aushalten und erlitt auch Zusammenbrüche. Doch jedesmal kehrte sie klarsichtig zurück, um weiterzumachen. Sie war eine Kämpferin, 90 Jahre lang.

Mehr Informationen

 

Künstler und Regisseur

 

Der aus Basel stammende Fabian Chiquet realisiert seit fünfzehn Jahren Projekte als Künstler, Musiker, Theaterregisseur und Filmemacher. Er wurde schon mit mehreren Preisen ausgezeichnet. «Die Pazifistin – Getrud Woker, eine vergessene Heldin» ist sein erster Kinofilm. Chiquet realisierte ihn gemeinsam mit dem Basler Filmemacher und Autor Matthias Affolter. Der Dokumentarfilm läuft seit dem 9. September in Kinos in der Deutschschweiz und in der Romandie.

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Gertrud Woker – eine vergessene Heldin
Die Pazifistin

Ab September 2021 in den Schweizer Kinos! 

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