Er zählt zu den wichtigsten Erforschern von Holocaust und Genozid – und als mahnende Stimme der Gegenwart: Der mehrfach ausgezeichnete israelische Historiker und Autor Saul Friedländer.
Das hat auch mit seiner Biografie zu tun. Friedländer wurde unter dem Namen Paul 1932 als Kind einer deutschsprachigen jüdischen Familie in Prag geboren. Nach der Besetzung der Tschechoslowakei emigrierte die Familie nach Frankreich, wo Paul Friedländer in einem katholischen Internat überlebte. Seine Eltern wurden bei einem Fluchtversuch an der Schweizer Grenze zurückgewiesen, deportiert und vermutlich in Auschwitz ermordet. Friedländer emigrierte 1948 nach Israel, wo er seinen Namen zu Saul änderte. Nach Studium und Promotion in Paris und Genf lehrte er in Israel und den USA, wo er heute auch lebt.
Als Historiker beleuchtet er nicht nur die politischen Entwicklungen, sondern rückt die Opfer des Holocaust und ihre Stimmen in den Mittelpunkt. Sein Buch «Das Dritte Reich und die Juden» gilt als Standardwerk zum Thema und wurde mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet. Den Balzan-Preis erhält er für «seinen beispiellosen Beitrag zur Entwicklung der Holocaustforschung, für sein Meisterwerk, die umfassende Geschichte der Verfolgung und Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden aufzuzeichnen.» Er habe eine historische Erzählung geschaffen, «die das Unaussprechliche zum Ausdruck bringt, indem sie die wissenschaftliche Analyse mit den disruptiven Stimmen der Opfer, Täter und Zuschauer verflicht.»
Interview von Astrid Tomczak-Plewka mit Christina Morina
Christina Morina, Balzan-Preisträger Saul Friedländer hat entschieden, die Hälfte des Preisgelds für ein Forschungsprojekt unter Ihrer Leitung zu verwenden. Worum geht es da?
Wir untersuchen Tagebücher von verfolgten Jüdinnen und Juden und nichtjüdischen «Bystandern» in ganz Europa. Mit dem englischen Begriff «Bystander» sind Menschen gemeint, die sich nicht eindeutig den TäterInnen oder Opfern zuordnen lassen, die aber dennoch als Zeitgenossen Teil des Geschehens waren und darin auch eine gewisse Rolle gespielt haben. Im Deutschen werden sie als MitläuferInnen und ZuschauerInnen bezeichnet, was allerdings keine sinnvollen analytischen Begriffe sind. Wir wollen herausfinden, wie sich die Judenverfolgung in den Tagebüchern vermeintlich unbeteiligter Mitmenschen niedergeschlagen hat, wie jüdische Tagebuchschreibende diese «Bystander» wahrnahmen und fragen danach, welche Rolle die nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaften in der Shoah insgesamt gespielt haben.
Wie würden Sie 14-Jährigen, die in der Schule gerade den 2. Weltkrieg behandeln, Ihr Forschungsgebiet erklären?
Wir befassen uns mit der Grundfrage, wie es dazu kommt, dass bestimmte Menschengruppen systematisch aus einer Gesellschaft ausgegrenzt, diskriminiert, beschimpft und verfolgt werden bis hin zu physischer Gewalt und Mord. Wir fragen uns, welche Umstände dazu beitragen, dass so etwas möglich ist. Was geht dabei in einer Gesellschaft vor sich, was treibt Nachbarn, KollegInnen, Bekannte dazu, sich der Verfolgung der Opfer gleichgültig oder gar zustimmend gegenüber zu verhalten, sie gar aktiv zu verschlimmern? Und im Gegenzug wollen wir auch herausfinden, was dazu beitragen kann, dass genau so etwas nicht passiert.
Welche Bedeutung hat der Balzan-Preis für Sie?
Wir bekommen dadurch die großartige Chance, auf der Grundlage von Saul Friedländers Lebenswerk weiter zu forschen und insbesondere seine Arbeit mit Tagebüchern fortzusetzen. Für mich persönlich ist es eine der grössten Auszeichnungen, die ich mir je erträumen konnte. Ich bin damit in der Lage, ein Team von Kolleginnen und Kollegen zusammenzubringen und an der Universität Bielefeld einen Forschungsschwerpunkt aufzubauen, den es so noch nicht gab. Ich führe damit aber auch Arbeiten weiter und zusammen, mit denen ich mich seit 10 Jahren beschäftige. Dieser Preis ist also eine wunderbare Fügung, und ich bin der Stiftung und Saul Friedländer für ihre Großzügigkeit, Förderung und das Vertrauen sehr dankbar.
Was würden Sie jungen Menschen raten, die in der Forschung – in Ihrem Gebiet oder auch woanders – voranschreiten möchten?
Ich glaube, es ist ganz wichtig, von den eigenen Fragen auszugehen und sich klar zu machen, was einen bewegt. Das persönliche Interesse und die Motivation und die Frage, was ich innerhalb und ausserhalb der Wissenschaft erreichen möchte, sind zentral. Dann sollte man sich gradlinig und mit aller Energie, die man hat, diesen Fragen zuwenden. Das Schöne an der Wissenschaft ist ja, dass es ein geselliges Unterfangen ist, das vom Austausch mit anderen lebt. Ich würde raten, diesen Austausch zu pflegen und sich bewusst zu machen, dass wir mit unserer Arbeit stets auf den Schultern anderer stehen.
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