Mikroorganismen sind seine Welt: Jeffrey Ivan Gordon (Jg. 1947) ist Direktor des Center for Genome Sciences and Systems Biology an der Washington University in St. Louis.
Der Mediziner und Molekularbiologe ist ein Pionier interdisziplinärer Studien des menschlichen Mikrobioms, insbesondere der Mikroorganismen des Darms. So fand er mit seinem Team heraus, dass sich die Darmflora bei Übergewichtigen von derjeniger bei Normalgewichtigen unterscheidet – und zwar sowohl beim Menschen als auch bei Mäusen. Die Mikroben von Übergewichtigen konnten besser Energie aus Nahrung gewinnen. Ausserdem haben die Forschenden festgestellt, dass normalgewichtige Mäuse mehr Fett einlagerten, nachdem ihnen die Bakterienkultur von übergewichtigen Mäusen übertragen wurde. Bei übergewichtigen Menschen war insbesondere das Verhältnis von Bacteroidetes zu Firmicutes zugunsten der Firmicutes verschoben. Firmicutes-Bakterien können aus der Nahrung besonders gut Kalorien herauslösen – ein evolutionärer Vorteil in Notzeiten, als ein Stückchen Brot lange hinhalten musste.
Heute ist dieser lebenswichtige Vorteil ein Nachteil: Menschen mit vielen Firmicutes-Bakterien holen aus ihren Mahlzeiten mehr Energie als andere und setzen daher auch schneller Fett an. Gordons Team fand zudem heraus, dass bei einer Diät der relative Anteil der Bacteroidetes grösser wurde. Diese Bakterienstämme verwerten Nahrung weniger gründlich. Gordon zog daraus den Schluss, dass Übergewicht eine bakterielle Komponente hätte – er spricht sogar von einer Übergewichts-Epidemie. Gordon wurde 2015 als Favorit für den Nobelpreis für Physiologie gehandelt. Den Balzan-Preis 2021 erhält er «für die Begründung der Forschungsrichtung «Mikrobiom» beim Menschen und das grundlegend neue Verständnis seiner Rolle für Gesundheit und Krankheit und auch für unseren Ernährungsstatus.»
Interview von Astrid Tomczak-Plewka mit Jeffrey Gordon
Jeffrey Gordon, Sie wurden für Ihre Arbeit zum Mikrobiom im menschlichen Darm ausgezeichnet. Wie würden Sie diese Forschung einem Kind erklären?
Wenn wir über unsere persönliche genetische Zusammensetzung und über die Bestimmungsfaktoren unserer Physiologie und unseres Gesundheitszustands nachdenken, denken wir vor allem an unsere menschlichen Bestandteile, einschliesslich unserer menschlichen Gene, Zellen und Organe. Aber es ist viel komplizierter und subtiler. Wir leben in einer von Mikroben dominierten Welt. Von Geburt an werden verschiedene Teile unseres Körpers mit nützlichen Mikroben besiedelt – Mikroben, die uns Fähigkeiten verleihen, die nicht in unserem menschlichen Genom, sondern in den Genomen unserer mikrobiellen Partner kodiert sind. Wir lernen, wie dieses «Zusammenleben», oder diese Symbiose, unsere biologischen Eigenschaften tiefgreifend beeinflusst. In unserem Labor untersuchen wir beispielsweise, wie die mikrobielle Gemeinschaft, die sich nach der Geburt im Darm ansiedelt, das Wachstum und die Entwicklung von Säuglingen und Kindern beeinflusst.
Wie gehen Sie dabei vor?
Wir haben herausgefunden, dass unterernährte Kinder und Säuglinge im Vergleich zu gesunden Kindern und Säuglingen in verschiedenen einkommensschwachen Ländern eine gestörte Entwicklung ihrer mikrobiellen Darmgemeinschaften aufweisen. Anhand von Tiermodellen konnten wir zunächst nachweisen, dass diese gestörte Entwicklung eine Mitursache der Unterernährung sein kann. Dann identifizierten wir therapeutische wachstumsbezogene mikrobielle Ziele in dieser Gemeinschaft und entwickelten eine auf das Mikrobiom abgestimmte Lebensmittelformulierung zur «Reparatur» der Gemeinschaft. Anschliessend testeten wir ein führendes auf das Mikrobiom ausgerichtetes therapeutisches Lebensmittel bei Kindern aus Bangladesch, die an mässiger bis starker Unterernährung litten, und stellten im Vergleich zu einem herkömmlichen Nahrungsergänzungsmittel eine deutliche Wachstumssteigerung fest. Wir haben die chemischen Strukturen der therapeutischen Nahrung untersucht, die von den mikrobiellen Zielorganismen erkannt werden, sowie die Stoffwechselwege, die in den entsprechenden Mikrobenstämmen und in ihrem Wirt beeinflusst werden. Die Allgemeingültigkeit und Nachhaltigkeit dieser Wirkungen werden nun in anderen Populationen unterernährter Kinder getestet.
Was bedeutet Ihnen der Balzan Preis?
Die Fragen, die die aktuelle Forschung zum Mikrobiom des Menschen antreiben, sind so alt wie die Disziplin der Mikrobiologie selbst. In den letzten 25 Jahren wurden bedeutende Fortschritte erzielt, wenn es darum geht, zu verstehen, wie sich mikrobielle Gemeinschaften auf unsere biologischen Eigenschaften auswirken; diese Fortschritte sind teilweise der Entwicklung neuer experimenteller und computergestützter Instrumente zu verdanken. Die menschliche Biologie aus einer mikrobiologischen Perspektive zu betrachten, birgt das Versprechen, dass wir die Grundsätze unserer Gesundheitszustände und die Ursprünge einer Reihe von Krankheiten besser verstehen und neue Ansätze für die Behandlung und die Prävention von Krankheiten entwickeln können. Mit diesem Preis zeigt die Balzan Stiftung, dass sie von der Bedeutung dieses Forschungsgebiets sowie von dessen interdisziplinärer und kollektiver Natur überzeugt ist. Darüber hinaus freue ich mich sehr über die Anerkennung der Arbeit einer Gruppe herausragender Studierender, Postdoktoranden, Mitarbeitender und Mitwirkender. Ich hatte das Glück, mit ihnen zusammenzuarbeiten und von ihnen zu lernen. Es gibt ein afrikanisches Sprichwort: Willst du schnell gehen, geh alleine. Willst du weit gehen, geh mit anderen.
Was möchten Sie jungen Menschen mitgeben, die auch so eine Reise unternehmen wollen?
Findet eine Umgebung, in der Neugier und die Leidenschaft, Unbekanntes zu erforschen auf einen Ethos der Freundlichkeit und Grosszügigkeit treffen – in der die Menschen keine Angst haben zu sagen, wenn sie etwas nicht verstehen, in der sie gemeinsam lernen wollen und können. Diese Geisteshaltung schafft Raum für Innovation; sie ist die Grundlage für die Art von interdisziplinären Ansätzen, die nötig sind, um die Funktionen des menschlichen Mikrobioms zu entschlüsseln, und sie ermöglicht es uns, uns so zu entwickeln, dass wir das Beste aus uns selbst und aus anderen herausholen. Ich bin sehr dankbar dafür, dass unser Labor ein Zuhause war und ist – eine Familie, die sich aus aussergewöhnlichen und inspirierenden Menschen zusammensetzt, die ihre Leidenschaft, Intelligenz und Offenheit mit Empathie und der Sorge um das Wohlergehen anderer verbinden; Menschen, die sich mit Bescheidenheit und Hoffnung dafür einsetzen, die Welt zu einem besseren Ort zu machen.
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